Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302193
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Gedächtnisforschung u.a. auf literarische Texte als Orte „kultureller Erinnerung“. Auch in dieser Hinsicht ist ihre Speicher- bzw. Archivierungsfunktion von Relevanz.

      Bildungsfunktion

      Literarische Texte beobachten – das ist bereits ausgeführt worden – gesellschaftliche Komplexität sowie kollektive und individuelle Problemlagen, sie speichern und verdichten gesellschaftliche und individuelle Positionen, sie inszenieren Werte und Normen von Gesellschaften bzw. Gruppen und deren Wirkungen auf Individuen. Die Lektüren literarischer Texte initiieren „Prozesse des Verstehens von Selbst und Welt“, sie gelten als „Sinn-/Bildungsprozesse“ (Decke-Cornill/Gebhard 2007: 10). In den „bildende[n] Begegnungen mit der Welt“ (ebd.: 11) können Lesende Impulse für die eigene Persönlichkeits- und Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsentwicklung finden.

      Unterhaltungsfunktion

      Nicht zu vergessen: Literarische Texte wollen nicht (primär) orientieren oder bilden, sondern unterhalten und unsere Einbildungskraft mobilisieren. Gerade deshalb werden sie – egal in welcher medialen Form – von vielen gelesen, gesehen oder gehört. Literarische Texte können dabei emotionale Wirkungen, spontane Reaktionen, (ästhetische) Urteile und weite Imaginationen der Leser*innen hervorrufen.

      Zu betonen wäre hier aber noch einmal, dass Literatur wie auch Kunst an sich keine Funktion(en) hat. Das Konzept der Autonomie der Literatur bzw. Kunst, ihrer Selbstbedeutsamkeit und Selbstwirksamkeit, spricht gegen diese Annahme. Mögliche Funktionen gewinnen Literatur und Kunst erst in der literarischen bzw. ästhetischen Kommunikation.

      Rückt man die Pragmatik bzw. Kommunikationssituation in den Fokus, wird eine weitere Annäherung an eine Bestimmung des Begriffs „Literatur“ möglich. So wird auch das Verhältnis von Text und Kontext bedeutsam. Jannidis/Lauer/Winko verweisen in ihrem Band Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (2009) darauf, dass gerade in der Diskussion um moderne Kunst der Kontext hohe Relevanz erlangt, „wenn etwa beim ready-made Alltagsobjekte in einen Kontext gestellt werden, der diese – ohne Veränderung an den Gegenständen selbst – zu Kunstobjekten macht“ (ebd.: 30, Herv. i. O.). Hier wird deutlich, dass der Begriff der Kunst bzw. der Literatur nicht aus den materialen Eigenschaften von Objekten abgeleitet werden kann. Texte können nur in Kontexten ‚verstanden‘ werden, wobei der Text einerseits als Zeichenkörper, andererseits als das Verstandene – „das mentale Gebilde, das das Ergebnis eines komplexen Verstehensvorgangs ist“ – gefasst wird:

      Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur von material vorgegebenen Zeichen und etwaigen generellen Codes abhängig […], sondern ebenso vom […] Kontext, zu dem allgemein Weltwissen und […] Wissen über die Textsorte, das Vorwissen über die spezifischen Gebrauchsregeln in diesem Zeichensystem, denen alle an der Kommunikation Beteiligten unterliegen, und allgemeinere Annahmen über die Funktion eines Textes in dem jeweiligen Kontext gehören. (Jannidis/Lauer/Winko 2009: 30)

      Textbeispiel

      Ein oft zitiertes Beispiel ist das 1969 in dem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschienene Gedicht von Peter Handke:

      Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg

      vom 27.1.1968

      WABRA

      LEUPOLD POPP

      LUDWIG MÜLLER WENAUER BLANKENBURG

      STAREK STREHL BRUNGS HEINZ MÜLLER VOLKERT

      Spielbeginn:

      15 Uhr

      Handke arbeitet hier mit einem ready-made. Er übernimmt die Namen der Fußballspieler in der Form, wie sie in Sportzeitschriften abgedruckt werden, in seinen Band, kontextualisiert sie damit neu und weist in dieser Weise darauf hin, dass Texte auch durch Kommunikationszusammenhänge, in denen sie erscheinen, zu literarischen Texten werden.6 Ähnlich funktionieren die Kassenbongedichte von Susann Körner (→ Kap. 6), bei denen ebenfalls die alltagspragmatische Form unverändert in einen Band mit literarischen Texten – hier in einen Gedichtband – aufgenommen wird.

      Einer möglichen Bestimmung des Literaturbegriffs kann man sich auch von dem umfassenderen Begriff des Erzählens her nähern. Die Narratologie, die sich mit dem (literarischen) Erzählen beschäftigt, hat in der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre sehr an Bedeutung gewonnen. Albrecht Koschorke spricht in seinem Band Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (2012) vom Menschen als „homo narrans“ und damit vom Erzählen als anthropologischer Grundausstattung (ebd.: 10, Hervorh. i.O.). Was er damit meint, verdeutlicht er mit einem Zitat aus Roland Barthes’ Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1988/frz. 1966):

      Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben. (Barthes 1988: 102, Hervorh. i.O.)

      Hier wird die anthropologische Bedeutung des Erzählens deutlich: Es dient als Medium individueller wie kollektiver Selbstverständigungsprozesse. Vorstellungen von individuellem Leben und sozialem Zusammenleben, Problemlagen und Problembehandlungen, Denkmodelle und Konzeptualisierungen von Welt finden im Erzählen ihre sprachliche Form, werden damit zugänglich und verhandelbar. Auf dieser erzähltheoretischen bzw. narratologischen Basis kann man den literarischen Text als prominentes Medium des Erzählens verstehen. Literarische Texte erhalten einen spezifischen Stellenwert und sind nicht eine Textart unter vielen.

      Für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ermöglicht die Arbeit mit literarischen Texten aus der Perspektive des Erzählens eine Auseinandersetzung mit individuellen wie kollektiven Reflexionsprozessen (vgl. Schiedermair 2014b, Riedner 2017). Wie sich in dem obigen Zitat schon andeutet, wird dabei ein weiter Textbegriff zugrunde gelegt, der z. B. auch Hörspiele, Filme, Video- und Werbeclips umfasst (→ Kap. 11). Der so entwickelte Begriff von Literatur ermöglicht es, eine große Vielfalt an medialen Formaten zu berücksichtigen.

      In der Gegenwart sind es weitere, neue Textformate, die unsere Vorstellungen von Literatur herausfordern. Diese besteht schon lange nicht (mehr) nur aus gedruckten und gebundenen Werken einzelner Autor*innen, die von einzelnen Leser*innen still rezipiert werden.

      Poetry Slams etwa können an einem Abend ein großes Publikum erreichen; die Texte werden nicht nur von Einzelnen, sondern auch von Teams verfasst und performt. Mit dem Erfolg von Poetry Slams sind die Mündlichkeit der Literatur, ihr Ereignischarakter und ihre Offenheit für alle Akteur*innen (wieder) in das Blickfeld gerückt.

      Die digitale Literatur steht dafür, dass die Grenzen zwischen Autor- und Leserschaft wie auch zwischen „Fiktion und inszenierter Wirklichkeit“ verschwimmen (Winko 2016: 6). Der Begriff der digitalen Literatur bzw. Netzliteratur, Internetliteratur, New Media Literature oder Hyperfiction ist jedoch zu schärfen. Sie ist zunächst von einer digitalisierten Literatur (E-Books, Bibliotheken wie das Projekt Gutenberg) zu unterscheiden. Deren Lektüre erfolgt am Computer oder einem anderen (mobilen) Endgerät; verändert ist so vor allen Dingen die Rezeption von Texten (→ Kap. 4, 5). Als