(2) Die eucharistisch-anamnetischen Gestalten
Anamnese ist Gedächnis, Erinnerung. Das deutsche Wort »erinnern« läßt ein »Verinnerlichen« mitschwingen. Die Mahlgaben werden in der von uns beschriebenen Gedächtnisfeier gedeutet. Sie machen in sich gegenwärtig, was die eucharistische Feier in ihren Lobpreisungen singt. In die Gaben wird verinnerlicht das fragend-existentielle Gedächtnis der feiernden Menschen: ihre Unheilsgeschichte, die in Jesus Christus als dem Gott in der Geschichte zur Heilsgeschichte gewandelt wurde. Die Gaben von Brot und Wein der Eucharistiefeier sind vor der Konsekration auch, wenn auch nicht nur, unheilsgeschichtlich orientierte Gedächtniszeichen und reichen vor das Abendmahl Jesu zurück. In der alttestamentlichen Passaliturgie sind sie Zeichen der Unheilssituation des alttestamentlichen Volkes in Ägypten, aber auch Zeichen der Befreiung. Im Abendmahl Jesu sind sie Zeichen der der Gemeinschaft der Jünger drohenden Christusferne und Gottesverlassenheit. Es ist ein Abschiedsmahl, das Jesus feiert. Unserer Eucharistiefeier deutet noch vor aller Wandlung Brot und Wein als Ausdruck der Situation des heutigen Menschen mit seiner Frage, wer er sei, gerade angesichts der menschlichen Mühsal, Gebrechlichkeit, Leid- und Todverfallenheit. Die Eucharistiefeier, in der die Menschen ihrer Unheilsgeschichte ebenso gedenken wie ihrer Heilsgeschichte, deuten das Brot als Brot der Mühsal, ihrer Lebenswüste, ihres Hungers, ihrer knechtlichen Arbeit und aller existentiellen Notsituationen, den Wein als Zeichen dafür, wie sehr das Leben sie belastet und durch die Kelter preßt, oft bis aufs Blut.
Wenn nun die Kirche die mit solch existentiellen Fragen gedeuteten Zeichen wandelt zum Leib und Blut Christi, dann werden diese Gaben Zeichen dafür, daß Jesus selbst mit diesen Gaben auch unsere Sinnsuche und unsere Unheilsgeschichte, aber auch alle Freude annimmt und sich darin als Retter erweist. Jesus zeigt sich so als der neue Mose, durch den Gott die Menschen in der Wüste dieser Welt mit dem Brot von Himmel speist, der den Orientierungslosen und Herumirrenden gleich dem Durchzug durch die Wüste sich selbst als Evangelium des Neuen Bundes gibt. Wenn Christus im Brot anwesend ist, wenn das Brot sein Leib ist, dann sagt uns das, daß wir Menschen in unseren Unheilssituationen von Christus bleibend angenommen sind. Das eucharistische Brot wird zum Zeichen dafür, daß es in Christus eine heile Zukunft gibt. In und mit dem eucharistischen Brot beantwortet Gott unsere existentielle Frage »Wer bin ich?«: Du bist der, den ich in Liebe eine Ewigkeit lang ernähren und am Leben erhalten werde. Dein Leben ist das gleiche Leben, das meinem gestorbenen und auferstandenen Sohn zukommt.
Auch der Wein erhält in der Eucharistiefeier neben der Deutung des geknechteten Israels das Zeichen der Trennung Jesu von seinen Jüngern – Christus wird mit ihnen erst wieder trinken, wenn er in seinem Reiche ist. Für die Menschen unserer Tage bietet die Eucharistiefeier den Wein Gott an als Zeichen unserer heutigen menschlichen Existenz, unserer Christusvergessenheit und so Christusverlassenheit, säkularer Gottferne und Gottlosigkeit. Aber dann, wenn der himmlische Vater den Wein als das Gedächtnissymbol seines Sohnes angenommen hat und im Heiligen Geist zu dem gemacht hat, an was er erinnert, dann ist dieser Wein das Blut Christi. Es ist jene Wirklichkeit, die unsere Leiden zum Sieg führt. Zugleich ist der konsekrierte Wein Verheißung und beginnende Wirklichkeit auch unserer Auferstehung und unseres Trinkens im Reiche seines Vaters.
Damit beantwortet der himmlische Vater im Blut seines Sohnes die existentielle Frage des Menschen: »Wer bin ich?«: »Du bist jener, der mit und in Christus bei mir eine Zukunft hat, in der du eine Ewigkeit nicht mehr bluten wirst.«
2. Epikletische, von Bitten (und Dank) bestimmte Existenz des Menschen und Eucharistie oder die Frage: »Wer liebt mich?«
a) Der Mensch – eine epikletische Existenz
Die zweite, den Menschen bestimmende existentelle Frage lautet: »Wer liebt mich?« Diese Frage ist mit der ersten eng verbunden. Denn auch hier muß ich meine Gegenwart und Geschichte abschreiten, um zu entdecken, wer mich liebt. Auch muß ich in die Zukunft schauen, ob dort jemand sei, der mir Leben ermöglicht. Aber diese Frage ist noch schwieriger zu beantworten als die erste. Wir erfahren nämlich, daß wir die Liebe uns gegenüber nicht erzwingen können. Denn erzwingen wir uns die Liebe des anderen, dann ist sie keine Liebe mehr. Wir lernen: Liebe ist wesentlich Ausdruck echter Freiheit und nicht jener falschen Freiheit, die wie ein Schmetterling von einer Blüte zur anderen flattert und sich nicht bindet. Der ist ein echt Liebender, der sich in seiner Freiheit an einen anderen Menschen bindet, ihn aber in dieser Selbstbindung zugleich freigibt. Zwischen zwei Partnern ist Liebe die in Treue zueinander gebundene Freiheit, wobei die wechselseitige Treue darin besteht, die Freiheit des anderen nicht aufzuheben, sondern zu fördern. Liebe ist deshalb nicht zu erzwingen, weil Freiheit nicht zu erzwingen ist. Der eine Partner kann den anderen um seine Liebe nur bitten oder für die gewährte Liebe danken. Weil wahre Liebe wirklich frei ist, ist sie auch unbestechlich. Nur die Bitte mit leeren Händen und der Dank ohne Rückzahlung wird der Freiheit eines anderen Partners gerecht. Und damit ändert sich die Frage »Wer liebt mich?« in die Bitte der leeren Hände: »Liebe mich selbstlos; liebe mich allein um meiner selbst willen! Laß mich in deiner selbstlosen Liebe so werden, wie ich werden werde: d.h. laß mir meine eigene Zukunft; laß mich so geworden sein, wie ich ward: d.h. laß mir meine eigene Geschichte und laß mich so sein, wie ich bin: d.h. laß mir meine eigene Gegenwart!« Ich muß hier nicht aufzählen, wie viele Irrtümer über Freiheit, Treue und Liebe es gibt.
b) Die Eucharistiefeier und die eucharistischen Gaben sind von epikletischer Wirklichkeit
(1) Die Eucharistiefeier als epikletische Wirklichkeit
Auch die Kirche, soweit sie aus Menschen besteht, steht mit leeren Händen vor der Freiheit Gottes. Sie kann ihm nur in Bitte und Dank begegnen. Sie wird damit, wie wir gesehen haben, einer Grundwirklichkeit menschlicher Existenz gerecht. Der Mensch lebt nicht aus sich, sondern immer von einem anderen her, letztlich von einem, der größer ist als er, der umfassender weiß, wer der Mensch ist und der die selbstlose Liebe ist, weil er nichts braucht. In der Meßfeier bekennt der Mensch, daß er nur dann frei ist, wenn er nicht mehr sich selber und seinem Egoismus leben muß, sondern von einem anderen her auf einen anderen hin: »Damit wir nicht mehr uns selber leben, sondern ihm, der für uns gestorben und auferstanden ist, hat er von dir, Vater, als erste Gabe für alle, die glauben, den Heiligen Geist gesandt, der das Werk deines Sohnes auf Erden weiterführt und alle Heiligung vollendet« (IV. Hochgebet). Im Blick auf diese Heiligung betet die eucharistische Liturgie um den Heiligen Geist in doppelter Weise: Einmal in der sogenannten Wandlungsepiklese über den Gaben: »Ja, du bist heilig, großer Gott, du bist der Quell aller Heiligkeit. Darum bitten wir dich: Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus« (II. Hochgebet). Zum anderen in der sogenannten Kommunionepiklese nach dem Einsetzungsbericht: »Wir bitten dich: schenke uns Anteil an Christi Leib und Blut und laß uns eins werden durch den Heiligen Geist« (II. Hochgebet). Die Kommunionepiklese kann auch anders lauten, hat aber das gleiche Anliegen: »Stärke uns durch den Leib und das Blut deines Sohnes und erfülle uns mit seinem Heiligen Geist, damit wir ein Leib und ein Geist werden in Christus« (III. Hochgebet). Der Heilige Geist ist es also, der unsere leeren Hände und Herzen füllt mit Jesus, der die selbstlose Liebe des Vaters an die Menschen gelebt hat und ist. In unserem Bitten um die selbstlose Liebe Gottes wird dieser Christus im Heiligen Geist in der Feier aktuell und in den Gaben sakramental gegenwärtig. Nach dieser Erfahrung dreht sich unsere existentielle Frage »Wer liebt mich?« um in den lobpreisenden Dank an Gott, der in Christi Leben seine selbstlose Liebe zu uns bis zum Kreuz bewiesen hat. Die selbstlose Liebe des Vaters hat auf den Sohn verzichtet, um in ihm alle Menschen anzunehmen. Der Sohn hat auf seine Herrlichkeit beim Vater verzichtet, wird Mensch und stirbt als die Menschen Liebender ungeliebt, um seine Selbstlosigkeit uns zu zeigen. Und der Heilige Geist zeigt seine Selbstlosigkeit, indem er uns nicht besetzt wie böse Geister den Menschen besetzen; der Heilige Geist macht unsere Hände