Andershimmel. Blickle Peter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Blickle Peter
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783520751911
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Sprachen der Welt sprachen. Der HEilige GEist war über sie gekommen. Der HEilige GEist war in tanzenden Seelenfeuern auf den Häuptern. Der HEilige GEist war eine tanzende Sprache.

      Und weil die Seele ein Teil von IHm in einem selbst war und weil man zu IHm, dem HErrn, betete, war der Odem, mit dem man IHn anbetete, ein besonderer Odem. Es war ein Seelenatem. Er gehörte IHm. Er war eine unvorstellbare Nähe zwischen IHm und den Worten des Betenden.

      In der Küche sang die Mutter, wenn es ein schwieriger Tag war, weil die Kinder vor den Ältestenrat berufen wurden: »SEine Güt und Wahrheit wäh-he-ret e-wig-lich.« Sie sang die Worte. Sie gab den Worten Atem. Wäh-he-ret. Und mit dem lang gedehnten E-wig-lich, das sie mehr hauchte als sang, ließ sich der Tag leichter ertragen. In IHm.

      Weshalb blieben ihm die Schläge, die Miriam empfing, so klar in Erinnerung, während sich die Schläge, die er empfing, in einem Erinnerungsnebel auflösten. Die Schläge, die er empfing, waren Teil einer anderen Seele, die nicht IHm gehörte. Sie waren Teil der Trotzseele. Der Ichbinichseele. Der Ichwillwegseele. Der Amerikaseele. Die Schläge, die Miriam empfing, waren Hilferufe. Sie verletzten. Sie trafen. Sie blieben im Dorf. Sie blieben in Miriam. Sie blieben in Johannes. »Verdient«, sagte der Vater mit den großen Zähnen. »Verdient hast du es dreimal.«

      Das sagte er in Liebe. In SEiner Liebe.

      Gab es in der Bibel eine Stelle, wo ein Mann seine Frau oder seine Tochter schlug? Johannes erinnerte sich nicht. Miriam wurde geschlagen, wie er geschlagen wurde. Existierte das Schlagen von Frauen und Kindern in der Bibelzeit? Wurde es nicht erwähnt, weil es unwichtig war? Bileam schlug seine Eselin, er schlug sie noch mehr, und er schlug seine Eselin mit dem Stock. Da sprach die Eselin zu Bileam: »Was habe ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?«

      So wurde erwähnt, dass ein Tier, ein weibliches Tier, geschlagen wurde – und das Tier antwortete mit Menschenworten. Denn das Tier war ein Instrument GOttes.

      Die Mutter sagte: »Eigentlich sollte ich dir den Hintern versohlen.« Miriam sagte: »Darfst ruhig ein bisschen sohlen, wenn du willst.« »Darfst ruhig ein bisschen sohlen.« Immer wieder sagte die Mutter den Satz. Im ganzen Dorf herum. Und lachte.

       15

      Das Universum war das Weltall. Das Weltall hatte Sonnen, Planeten, Horizonte. Auf einem dieser Planeten lebten Männer, Frauen, Kinder und Greise, Hunde und Katzen, Affen und Igel. Alles war da. Alles war einfach.

      Bis es ans Segnen ging. Beim Segnen begann es, kompliziert zu werden. Alle wollten gesegnet werden. Aber es gab nicht genug Segen für alle. »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«, erster Mose zweiunddreißig siebenundzwanzig. Es war das dreiundzwanzigste Mal, dass Segnen in der Bibel erwähnt wurde. Der UNbekannte rang mit Jakob, bis die Morgenröte anbrach. Und als ER sah, dass ER ihn nicht übermochte, schlug ER ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit IHm verrenkt. Und ER sprach: »Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.« Aber Jakob antwortete: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.« ER sprach: »Wie heißest du?« Er antwortete: »Jakob.« ER sprach: »Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit GOtt und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.« Und Jakob fragte ihn: »Sage doch, wie heißest du?« ER aber sprach: »Warum fragst du, wie ICh heiße?« Und ER segnete ihn daselbst.

      Ein Segen konnte erschwindelt werden. Denn ein Segen, der einmal ausgesprochen war, galt. Er konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Auch wenn er erschwindelt wurde. »Bist du mein Sohn Esau?« Jakob sagte: »Ja, ich bin’s.« Da sprach der Vater: »So bringe mir her, mein Sohn, zu essen von deinem Wildbrett, dass dich meine Seele segne.«

      Und als der echte Esau später kam, war der Segen schon vergeben: »Dein Bruder ist gekommen mit List und hat deinen Segen weggenommen.« Esau sprach: »Hast du denn nur einen Segen, mein Vater?« Da antwortete Isaak, der Vater: »Siehe, du wirst wohnen ohne Fettigkeit der Erde und ohne Tau des Himmels von oben her. Von deinem Schwert wirst du dich nähren, und deinem Bruder sollst du dienen.« Und das, weil er zu spät gekommen und das Opfer eines Segensbetrugs geworden war. Esau, das Opfer, musste leiden.

      All diese Worte lebten in einem Weltenraum, in den Mütter und Schwestern nicht hineindurften. Der Segen blieb im Männerraum des Universums. Mütter konnten helfen, ihren Mann zu betrügen.

      Oder vielleicht war es kein Betrug. Vielleicht war Jakob der Liebling des Vaters, und der Vater brauchte ein Alibi, um das zu tun, was er tun wollte: seinen Segen dem geben, dem er ihn geben wollte. Kannte Rebekka ihren Isaak? War es ein abgekartetes Spiel?

      Rebekka sagte: »Der Fluch sei auf mir, mein Sohn; gehorche nur meinen Worten.« Da ging Jakob und holte Felle von Schafsböcken, mit denen Rebekka Jakobs Hände und den Hals, wo Jakob, der Muttersohn, glatt war, umwickelte. Blind war der Vater. Doch der Segen, war er einmal ausgesprochen, galt.

      Glaubten alle Völker an eine Form des Segnens, an eine Form des Glücks des Gesegneten und eine Form des Unglücks des Verfluchten? »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.«

       16

      Er ging an der Hoffnung vorbei, vorbei am Licht und am Schatten. Alle drei standen offen. Alle drei hatten einen eigenen Geruch. Die Hoffnung roch nach Speichel und Lysol, denn sie musste oft desinfiziert werden, das Licht roch nach alten Steinfliesen, denn das Gebäude diente als Speicher, und der Schatten roch nach Fotokopiermaschinen und Parfum, denn in ihm war die Verwaltung untergebracht. Und ein Stück weiter an der Straße kam die Töpferin. Deren Geruch kannte er in- und auswendig. Den roch er in sich, bevor er die Schrift »Töpferin – Um die Ecke« auf dem handgemalten Schild sah. Bei ihr roch es nass und erdig. Es surrte und brauste. Sie saß auf einem Schemel und hatte immer wieder gelbes Blut zwischen den Fingern, das sie formte und in die Höhe steigen ließ. Mit dem Handrücken wischte sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und versuchte, sie sich hinters Ohr zu streichen, was ihr aber nur selten gelang, weil ihre Haare wild waren.

      Maria hieß sie. Und Morgenröte. Sie ließ ihn zuschauen. Er durfte neben ihr stehen und Nässe und Erde riechen, wie sie lebendig zwischen ihren Fingern größer und kleiner, höher und runder wurden. Auf ihrer Scheibe zwischen den Beinen ließ sie die Ränder von Tassen und Kannen schnell in die Höhe fließen. Die dünnen Wände flossen tatsächlich nach oben. Und dann waren plötzlich, wenn das Messer kam, die Ränder auf halber Höhe weg. Die gelben Finger kneteten, was das Messer abgeschnitten hatte, zu einem gelben Blutklumpen und warfen ihn zurück zum anderen Blut in der Schüssel. Es war eine Form des Schlachtens, die hier mit dem Kreischen der Sandsteinscheibe und dem Messer stattfand. Nur war hier alles gelb, und niemand wurde an den Ohren hereingezogen und mit einem Schuss in die Stirn auf den Boden geworfen. Manchmal sagte die Morgenröte: »So, kommst du mich wieder einmal besuchen?« Und sie sagte: »Willst du mir eine Weile zuschauen?« Sie sah ihn gern. Bei sich. Neben sich. Meistens sagte sie nichts. Sie wusste, sie brauchte nichts zu sagen. Er durfte da sein – in der Nässe und in der Erde und im Drehen der Platte zwischen ihren Beinen. Und er schaute ihren Fingern, ihren Fingernägeln, ihren Handflächen und Daumenspitzen zu. Und er wollte ihre Haare riechen. Er wollte wissen, wie sie wirklich rochen. Aber da waren die Gerüche der Nässe und der Erde, der Geruch des gelben Blutes. Sich ganz nah neben sie stellen und ihre Haare riechen durfte er nicht. Eine Armlänge – das war die geltende Distanz im Dorf. Und über diese Entfernung konnte er ihre Haare in der Werkstatt mit all den anderen Gerüchen nicht riechen. Vielleicht war das überhaupt der Grund, weshalb man diesen Abstand im Dorf einhalten musste. Haareriechen war gefährlich. Im Geruch der Haare begann die Hölle. Im Geruch der Haare wurde es heiß und sündig. Das spürte er. Deshalb war er hier. Deshalb stand er in der Werkstatt beim Formwerden des gelben Blutes.

      Am Ende durfte er einen Teller machen, aber nicht auf ihrer Scheibe. Er gab sich Mühe mit seinem Teller. Sie sollte sich beim nächsten Mal wieder über seinen Besuch freuen. Sie sollte ihn segnen. Sie sollte den Teller segnen. Sie sollte sagen: »Ich glasiere ihn dir. Soll’s wieder blau sein?«

      Der kleine Junge und das Dorf. Dass die Morgenröte mit ihm verwandt war, war selbstverständlich, denn in diesem Dorf waren alle mit allen verwandt.