Zusammengefaltete Zettel wanderten unter den Tischen hin und her: Hesekiel 23, 3. Hesekiel 4 × 4, 5 × 5. Hesekiel 23, 34. Sie blätterten eifrig in ihren Bibeln. »Dort ließen sie nach ihren Brüsten greifen und ihren Busen betasten.« »Du spreizest deine Beine für alle, die vorübergingen.« »Den Kelch musst du bis zur Neige austrinken, danach die Scherben ausschlürfen und deine Brüste zerreißen.«
Johannes und Miriam ließen sich in ihrem christlichen Glauben konfirmieren und bekamen Geld von den Verwandten und Handtücher und Taschentücher von den Geschäftsleuten des Dorfes. Seine Großmutter, silberhaarig und mit Augen, die jedes Jahr weicher wurden, strich ihnen über die Haare und wünschte, dass aus ihnen einmal etwas Rechtes würde. Sie sagte: »Bei der Miriam mache ich mir keine Sorgen. Bei dir, Johannes, aber schon.« Dazu lachte sie so, dass man merkte, wie gern sie ihn hatte, weil sie sich bei ihm Sorgen machen musste. Sie mochte das Wilde. Bei Jungen. Wenn sie sich bei Miriam hätte Sorgen machen müssen, hätte sie Miriam dafür nicht gern gehabt. Das wäre eine andere Sache gewesen.
Johannes ging mit Rahel ins Ried. Sie waren beide konfirmiert. Sie schenkten einander das Hohe Lied.
»Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.«
»Die Rundung deiner Hüfte ist wie ein Halsgeschmeide, das des Meisters Hand gemacht hat. Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Lilien. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen. Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne!«
Die Worte blickten auf sie. Rahel war überall. Sie bedeutete alles – und noch mehr.
Auf dem Jägerstand schenkten sie einander den Psalm. Sie berührten einander, wie es nur in Worten möglich war. Im Wechselgesang.
Sie: »Du salbest mein Haupt und schenkest mir voll ein.«
Er: »Meine Zunge ist ein Griffel.«
Sie: »Gürte dein Schwert an meine Seite, du Held, und schmücke dich herrlich!«
Er: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet für ewig.«
Sie: »Es muss dir gelingen in deiner Herrlichkeit.«
Sie gab ihm Feuer. Sie rauchten gemeinsam eine Zigarette. Immer wieder sogen sie den Rauch in sich ein. Es wurde ihnen leicht im Hirn. Sie öffneten die Lippen und hauchten sich gegenseitig Wolken in die Augen. Sie berührten einander mit dem Rauch, mit den Lippen, mit den Händen.
20
Das Dorf war ein Wunder an Widersprüchen. GOtt wusste alles. Daran gab es keinen Zweifel. Wenn Menschen etwas nicht wussten, dann wusste GOtt, warum die Menschen etwas nicht wussten. Aber das Nicht-Wissen des Dorfes war dem Nicht-Wissen der umliegenden Ortschaften überlegen. Denn diese umliegenden Ortschaften hatten eine andere Verbindung zu Gott, wenn sie überhaupt eine hatten. Nur im Dorf hatte man die richtige Verbindung zu GOtt. Deshalb lebten die Menschen hier – weil sie fest standen in ihrem Glauben. Sie dienten GOtt so, wie ER es die Menschen gelehrt hatte. Dass die Verbindung des Dorfes zu GOtt anderen Verbindungen zu GOtt, womöglich zu anderen Göttern, vielleicht zu Allah oder zu Buddha, noch weiter überlegen war, verstand sich von selbst. Deshalb wurde großzügig und oft für die Heidenmission geopfert. Es wurde nicht nur Geld geopfert. Manche im Dorf fühlten sich berufen, ihr Leben der Mission zu opfern. Sie zogen mit ihren Frauen, denn meist waren es Männer, die sich zu diesem Dienst berufen fühlten, und mit ihren Kindern nach Gambia und nach Alaska, nach Ghana und nach Guyana. Nur nach Israel zogen sie nicht. Denn die Juden waren das von GOtt auserwählte Volk. Sie waren SEin Volk. Egal, was man in der Gemeinde tat, man würde nie so auserkoren sein, wie es die Juden waren. Aber GOtt stellte einen jeden an seinen Ort und gab einem jeden seine Aufgabe. So hoch wie der Himmel über der Erde war, so hoch waren SEine Gedanken über ihren Gedanken.
Johannes und Rahel zogen abwechselnd an der Zigarette und fühlten sich der Überlegenheit des Dorfes, die nichts war als Einbildung und Beschränkung, überlegen. Sie sahen, was das Dorf nicht sah. Das Vorurteil im Dorf. Die Herablassung im Dorf. Die Eitelkeit im Dorf. Und indem sie Vorurteil, Herablassung und Eitelkeit im Dorf sahen, konnten sie sich dem Dorf überlegen fühlen. Sie wussten, sie hatten keine Vorurteile. Sie waren offen für die Welt und für alle Religionen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre das sonntägliche Opfer aus dem Betsaal direkt der Romafamilie im Nachbardorf übergeben worden. Ohne dass man sie zuerst hätte missionieren und taufen müssen.
Und trotzdem hielt sich das Dorf für wohltätig. Das Dorf lebte der Nächstenliebe. Die Einwohner glaubten an ihre Nächstenliebe. »Das ist«, sagte Rahel, »Wohltätigkeit und Hochmut in selbstgerechter Mischung.« Sie sagte: »Das ist christlicher Snobismus.«
Rahels Großvater war aufs Stift gegangen. Also kannte auch ihr Vater, der Zahnarzt, die Namen Barth und Buber und Bonhoeffer und Kierkegaard. Er konnte von Diesseitigkeit und Mündigkeit und Daseinsangst und Zwiegespräch und Gebet und Dialektik reden. Nicht von ungefähr hatte er, als ihm die Zahnarztstelle im Dorf angeboten wurde, zugesagt. Er hatte sich berufen gefühlt. »Das ist der Ort, den ER mir zuwies.«
Rahel sagte: »Bei ihm weiß ich nie, ob er von innen heraus glaubt oder ob er sich von außen zuschaut und gern glauben würde.«
Johannes sagte: »Ist nicht beides gleichzeitig möglich?«
Rahel sagte: »Trotzdem ist der Stiftsstolz nichts als peinlich. Als ob die Stiftler die Aristokratie der Welt wären. Wer dazugehört, bildet sich darauf wunder was ein.«
»Dabei hätte es dein Vater gar nicht nötig.«
Die Zigarette war zu Ende. Sie warfen sie vom Jägerstand und stiegen die Leiter hinunter. Unten spuckten sie auf die Erde, weil es sich gut anfühlte, auszuspucken. Denn das Ausspucken fühlte sich wie eine Sünde an. Es war eine Sünde wie das Kauen mit offenem Mund, das Furzen beim Essen, das Rülpsen in der Kirche und das Rauchen von Zigaretten. Sünde über Sünde. Alles, was Innen und Außen überraschend verband und zu einem Gefühl der Erleichterung führte, war eine Sünde. So war das. Und deshalb spuckten sie gleich noch einmal auf den Fichtennadelboden des Hohen Waldes. »Sodom und Gomorrha.« »Ernte 23.« »Spitz auf Knopf.« »Fick dich ins Knie.«
21
Zu Rahels Familie gehörte die Dichterin von »O du Lamm Gottes«. Alle kannten dieses Lied. Die Dichterin war Hausmutter einer Missionsanstalt gewesen, wo sie jahrzehntelang treu ihren Dienst versah. Zweiundvierzig Jahre lang war sie verheiratet mit dem Leiter der Missionsanstalt. Die Gehirnhautentzündung, die sie sich als Kind in Jerusalem zugezogen hatte, und die Krankheit am Kehlkopf, die sie später befiel, minderten ihren Opfermut nicht. Sie ging auf in ihrer Aufgabe. Sie gab sich hin – der Anstalt und der Mission. Zehn Kindern schenkte sie das Leben. Zwei von ihnen gingen schon bald wieder heim. Das Dichten von Kirchenliedern war Teil ihrer Gaben und Aufgaben. Sie gehorchte IHm. In allem.
Dass es in Rahels Familie einen Nobelpreisträger gab, erwähnte niemand, denn dieser Nobelpreisträger war dreimal verheiratet und schrieb Dinge, die nicht christlich waren. Auf ihn war niemand stolz. Eltern im Dorf gaben ihren Kindern nie seinen Vornamen.
Überhaupt hatte man im Dorf ein seltsames Verhältnis zur Literatur. Es gab zahlreiche Verbindungen; Namen, Stuben, Klassenzimmer, die nach Dichtern benannt waren: das Hölderlin, das Mörike, das Hauff. Man erinnerte sich auch an jene, die Theologen waren oder in die Mission gingen oder die Bibelanstalten und christliche Verlage leiteten. Jene, die keinen christlichen Lebenswandel führten, erwähnte man nicht. Man verurteilte sie nicht. Das stand einem nicht an. Urteilen tat der HErr, der ALlmächtige, der SChöpfer des Himmels und der Erde. In der Bibliothek des Dorfes standen die Werke des Abtrünnigen. Und Johannes las sie – alle. Wer dreimal heiratete, konnte kein Vorbild sein. Wer indische Religionen vorzog, konnte kein Vorbild sein. Wer griechische Frauen anbetete, konnte dagegen ein Vorbild sein. Friedrich und Eduard und Wilhelm und Dorothea