Er hatte gemeint, er hätte es vergessen. Jetzt bemerkte er, wie wenig er es vergessen hatte: die Worte, hinter denen er sich vor ihr und ihrer Welt versteckt hatte. Jahrzehntelang.
Worte. Bei ihm war es sein Spitz, sein Rolle, sein Gießkännchen, sein Dingsda. Was war es bei ihr? Da hatte es kein Wort gegeben. Es war, als sei es ein langes, schmales Nichts gewesen. Unaussprechlich. Scheide hieß es in der sechsten Klasse. Das war ein schlimmes Wort. Scheide. Scheidung. Und wie noch? Er konnte sich kein anderes Wort denken. Es hatte kein anderes Wort gegeben. Es war ein Bereich, den Worte mieden. In der Familie hatte es keine entspannten, witzigen Worte dafür gegeben. »Jetzt lass dein Gießkännchen auch mal wieder in Ruhe.« Das hatte ihm gegolten. Darüber hatte man lachen können. Wann hatte sie ihren Kitzler entdeckt? Wer hatte ihn zuerst berührt? Sie? Oder jemand anders? Hatte sie gedacht, ein erwachsener Penis sei zwanzig Zentimeter lang und werde, wenn er sich versteifte, noch länger? Hatte sie Angst vor dem, was auf sie zukam? Welche Beziehung hatte sie zu ihrem Körper »da unten«? War alles für sie »ganz normal« oder wollte sie besonders sauber sein? Was war natürlich? Dachte sie: »Ich mag meine Furche.«? Oder dachte sie: »Mich ekelt’s immer ein bisschen vor mir. Ich weiß, es sollte nicht so sein. Aber so ist’s halt nun ’mal.«?
Was hatte sie sich vom ersten Mal erwartet? Er war sicher, dass es mit Matthias gewesen war. Miriam war einundzwanzig. Er war der Richtige. Sie hatte auf ihn gewartet. Wahrscheinlich hatten sie nicht bis zur Hochzeit gewartet. Die Liebe war die Bestätigung, dass er der Richtige war. Das Gefühl hatte sie geführt. Und dann? Was hatte sie gespürt? War sie glücklich geworden? Wie hatte sie die Liebe getroffen? Hatte sie sich nur um Matthias gekümmert? Hatte sie auch süße Aufmerksamkeit erhalten? Matthias war sensibel. Zuvorkommend. Aufmerksam. Taktvoll. Respektvoll. Geduldig. Feinfühlig. Aufgeschlossen. Zu Worten hatte Matthias ein distanziertes Verhältnis. Aber Miriam hatte sich in einen guten Mann verliebt. Miriam hatte einen guten Mann geheiratet.
Was erwartete eine Frau, die in diesem Dorf aufgewachsen war, vom ersten Mal? Eine Zusammenkunft in JEsus? Eine Vereinigung in IHm? Einen Segen und ein Gesegnetsein in SEiner Güte und Barmherzigkeit? Eine Andacht und einen Segensdienst in IHm? Und wenn es zur großen Vereinigung kam, so war es ein Gesegnetwerden der Seelen durch IHn? Die Lösung der Spannung – die Erlösung in IHm? Im Schoße der heiligen Ehe? War die Jungfernschaft ein Geschenk, das sie IHm zum Opfer brachte und das zu einem Segen wurde? Ein Geschenk, das Miriam IHm und ihm machte? Hatte sie Erwartungen? Dachte sie, sie würde in diesem Moment zu einer Frau? War es ein Hineinerleben in das Geschenk eines möglichen Kindes? »Ich will ein Kind von dir.« In IHm. Mit IHm. Das Wunder der Schöpfung. In SEinem Heiligen Namen.
Da war eine ganze Welt, in der alles, was ihr passieren konnte, passierte. In IHm. Weil alles in IHm und durch IHn geschah – wenn man es zuließ und wenn man in einem Zustand der Gnade war. War etwas nicht erfüllend, dann lag das nicht an IHm oder an ihm, sondern am eigenen Zustand, in dem man IHn nicht richtig empfing und aufnahm. Es galt dann, sich im Gebet zu läutern, sich zu öffnen, damit man bereit war für ihn, in IHm. In SEinem Segen. Bereit für den Segen. War es so gewesen für sie?
8
Der Vater kitzelte die Schwester durch. So nannten der Vater und Johannes das: »Jetzt wird sie durchgekitzelt.« Manchmal half Johannes dem Vater. Dann kitzelten sie ihr den Bauch, bis Miriam vor Lachen Tränen weinte. Das war lustig. Miriam gefiel es, durchgekitzelt zu werden. Sie sagte: »Ich kann gar nicht mehr vor lauter Lachen.« Sie keuchte, sie schluckte, sie wischte sich Tränen aus den Augen und holte immer wieder Luft. Laut. Keuchend. Atmen musste sie. Sich wiederfinden nach all dem Lachen musste sie. Ihre Augen leuchteten, und sie schaute den Vater und sie schaute Johannes an. Das war Nähe. Was sich liebte, das neckte sich. Nicht, dass er, Johannes, so hätte geneckt werden wollen. Er wollte von nichts und von niemand gekitzelt werden. Er hätte sich gewehrt, wenn das jemand bei ihm versucht hätte. Er hätte sich stark gemacht. Er hätte um sich geschlagen, wenn es nötig gewesen wäre. Aber er war er, und Miriam war Miriam.
Das Necken zerriss Grenzen. Schuf ein neues Wir. Im Kitzeln. Im Lachen. Und dass da auch ein bisschen Muskelkraft mit im Spiel sein durfte, machte alles noch schöner. Es gab eine andere Macht, die auch zur Macht der Liebe gehörte. Gewalt. Lachen. Nachdem sie durchgekitzelt worden war, waren alle zufrieden. Das Lachen war ein Glück der Kindheit.
Alle Mädchen im Dorf wurden durchgekitzelt. Die Kindergesichter lachten gern. Es war eine Freude, die ER, DEr alles geschaffen hatte, seinen Kindern schenkte. Auch dieses Lachen lag in SEinem unergründlichen Ratschluss.
Wenn sie Miriam durchkitzelten, verzog sich ihr Gesicht, verzog sich ihr Mund. Da ging ihr ihr Gesicht verloren. Und der Körper zitterte. Sie wurde immer wieder neu. Es war ein Geschenk, vom Vater und vom Bruder, an sie. Sie hatten sie gern. Das zeigten sie ihr. Indem sie sie lachen ließen. »Jetzt bist du dran, du kleine Kröte.« Und dann war sie dran. Sie tat, als wolle sie weglaufen. Aber das half ihr nicht. Sie wurde gefangen. Sie wurde festgehalten. Die Fingerspitzen von Vater und Bruder wurden lebendig auf ihrem Bauch, auf ihrem Rücken, an ihren Nieren. Und sie wand sich. Sie wollte sich befreien. Aber sie durfte sich nicht befreien. Sie durfte lachen. Immer weiter durfte sie lachen. Nichts als lachen. Und weiter.
Sie nannten einander »Bubbu« und »Bibbi«, »Uhu« und »Uhi«, »Auflauf« und »Nudel«. Bruder und Schwester, Mann und Frau. Eine seltsame Helle war in Miriam. Das spürte er. Sie war stärker als die Welt. Sie lebte in einer eigenen Welt. Nur durchs Kitzeln konnten sie ihr in ihrer Welt näherkommen.
Miriam blieb in einer anderen Welt, in einer anderen Liebe. Sie blieb in der Welt der Seelenliebe, der Wortliebe, der Rätselliebe, der körperlosen Liebe. Sie und er. Das Wir von morgen. Gekitzelt. Gespiegelt. Gespielt. Ineinander und durcheinander. Die Welten. Ihre und seine.
9
Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Rosenstrauch berühren, sonst ging der Rosenstrauch ein. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keine Früchte einmachen, sonst verdarben die Früchte. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Myrtenstrauch pflanzen. »Wer Myrten baut, wird keine Braut.« Ein Mädchen durfte, wenn es das erste Mal in der Zeit war, das Hemd nur mit kaltem Wasser waschen und dieses Wasser nur an einen Rosenstrauch gießen, damit es sein Leben lang ein rotes Gesicht behielt.
All das wusste er. Er wusste auch, dass sie fror, wenn sie in der Zeit war. Sie war dann noch mehr allein.
»Woher wollt ihr wissen, wer ich bin?«, brüllte sie.
»Wenn du so etwas sagst, liegt kein Segen darauf«, sagte der Vater, der von allem nichts wusste.
Miriam rannte hinaus. »So ein Arschloch.«
Sie rannte in ihr Zimmer und zog sich um. »Lass mich in Ruh«, rief sie, als Johannes an die Tür klopfte. Sie wollte allein sein. Aber er wusste, dass sie nicht allein gelassen werden wollte. Er klopfte wieder. So, wie er klopfte, wusste sie, dass er es war. Zweimal weich klopfen, dann eine kurze Pause, wieder zweimal weich klopfen, wieder eine Pause, und ein drittes Mal. Mit jedem Doppelklopfen ließ er den Ton weicher und fragender werden. Als sie nicht antwortete, öffnete er langsam die Tür. Als sie nicht aufblickte, ging er hinein. Er setzte sich aufs Bett; er setzte sich neben sie.
Einmal hatten sie gemeint, der Herr JEsus blicke durch das Dachfenster in ihr Zimmer herunter und schaue, ob sie die Schnörkel im Schönschreibheft richtig gemalt, ob sie die Schuhe ordentlich vors Bett gestellt, ob sie der Mutter geholfen und nicht gelogen hatten.
Johannes sagte: »Weißt du noch, als ich die zwei Zehnpfennigstücke aus dem Muttergeldbeutel genommen und in der Bäckerei zwei Gummicolaflaschen gekauft habe?«
Miriam sagte nichts.
Haribo. Cola. Es war der Geschmack der Welt. Sie und er. In der Welt war die Versuchung. Die versuchten sie. Je schwärzer sie war, desto besser schmeckte sie. Sie saugten das Schwarz aus den Colaflaschen. Er war schneller als sie. Er war stärker als sie.
Sie sagte: »Es ist einfach nicht fair.«