»Da muss ich die Stauch erst noch fragen. Da unten am Bach, wo die Erde so schwer wird, wären mir eins achtzig lieber, ehrlich gesagt. Aber an einem Mittag schaffe ich das so oder so.«
Dann kam Martina nach Hause. »Schön, dass du schon da bist.« Jetzt konnten sie auf ihr Zimmer gehen. Züchtig, verschämt, neugierig. Die Natur hatte Martina wohlwollend ausgestattet. Mit Körper und Seele. Sie malte. Johannes’ Augen begleiteten sie, wie sie malte. Sie beobachteten, wie der Körper sich mit den Pinselstrichen wiegte. Die Hüften waren das Gegengewicht zur Leinwand.
Martina ließ es zu, dass Johannes sie mit den Augen berührte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Vater in der Tür stehen. »Es ist schon nach zehn«, sagte er. Und Johannes sagte: »Schon so spät? Dann gehe ich jetzt lieber.«
24
»Komm«, sagte sie zu Johannes. »Wäre Liebe nur ein Geist, dann könnten wir einander lieben«, sagte sie. »Wäre Liebe nur ein Hauch, dann könnten wir einander lieben. Wäre Liebe nur eine Farbe, dann könnten wir einander lieben.«
Martina wusste, was der HErr von ihnen verlangte. Sie wusste, wohin der HErr sie führen wollte.
Er sagte: »Selbst so, wie die Liebe ist, können wir einander lieben.«
Sie sagte: »Ich werde.«
Er sagte: »Was wirst du?«
Sie sagte: »Nichts. Ich werde. Das reicht schon.«
Er sagte: »Ich werde flüstern.«
Sie sagte: »Du Idiot.« Dann nahm sie seine Hand. Sie gingen spazieren und brachten ihre Schritte dazu, eins zu werden. Sie spürten die Gesichter des Dorfes.
Weit weg waren die Eltern.
»Die Farben«, sagte sie, »winden sich.«
»Von innen heraus.«
»Komplementär und konträr.«
Im Wohnzimmer hing bei Krügers ein Gemälde mit einem auf Wolken schwebenden und die zu IHm Kommenden segnenden JEsus in weißem Kleid. Daneben hing von Hand gestickt das Tischgebet: »Komm, Herr JEsus, sei unser Gast, und segne, was DU uns bescheret hast.« Das hatten sie von der Urgroßmutter geerbt.
Sie gingen zurück auf ihr Zimmer. Es war Mittag, und der Vater grub. Ein Wäschekorb stand leer in der Ecke. Sie sagte: »Als Kind wollte ich in einem Weidenkorb auf einem Fluss davontreiben.«
»Nichts wie weg. Wie Mose.«
»Genau.«
Langsam zog sie sich aus. Er berührte mit den Augen die Narbe unter ihrem linken Auge. Er berührte die Haut, berührte den Arm und die Stelle, wo ihr der Gummi vom Schlüpfer noch als rotes Tattoo um die Hüften wehte. Sie war eine Künstlerin, die nackt vor ihm stand. Sie streichelte mit ihren Händen überkreuz ihre Schlüsselbeine und ihre Arme. Dabei schaute sie ihn an. »Jetzt bist du dran.« Sie zog einen blau-weißen Bademantel über und legte sich aufs Bett.
Er schlüpfte aus den Schuhen. Er öffnete den Gürtel. Metall klang auf Metall. Die Gürtelschnalle machte immer dieses Geräusch.
Sie sagte: »Nein, zuerst das Hemd.«
»Warum?«
»Weil das dramatischer wirkt.« Sie nahm eine Orange vom Nachttisch und begann, sie zu schälen. Es roch nach Weihnachten.
Er zog das Hemd, dann das Unterhemd aus. Er tanzte, als höre er Musik. Er hörte Musik. Er hörte das erste der Brandenburgischen Konzerte. Langsam. Die Flöten, die atmeten.
Sie sagte: »Das mit dem Tanzen machst du gut.«
Er war nackt vor ihr. Er tanzte weiter. Er konnte nicht ruhig stehen.
Sie sagte: »Komm, setz dich.« Sie biss in den Apfelsinenschnitz. Sie trank im Kauen. Dann bot sie ihm die andere Hälfte an. Er biss, er kaute, er schluckte.
Sie sagte: »Es muss einmal ernst werden.«
Er sagte: »Ist es jetzt nicht ernst?«
Ihre Augen waren die Augen einer Suchenden. Ihre Augen verstanden ihn nicht. Ihre Augen waren zuhause in Farben und Formen. So gab es keine Gegenseitigkeit. Es gab keine Antworten. Diese Welt war zu groß für zwei Fünfzehnjährige, die staunten und kauten.
Martina reichte ihm die Hälfte des nächsten Schnitzes. Ihre Finger glänzten. Am Handgelenk trug sie ein silbernes Kettchen. Das sah er, obwohl sich der Bademantel vorne großzügig öffnete. Aber die Hauptsache waren ihre Finger, die ihn fütterten. Das war ein Geschenk. Das war ein Geschmack. Auch wenn sie einander nicht verstanden.
25
Als er von Martina nach Hause kam, sah Miriam anders aus. Sie trug die Haare nach hinten gekämmt. Sie wirkte streng mit ihrer Frisur. Sie wirkte verschlossen mit dieser Frisur. Sie wirkte ängstlich mit dieser Frisur. Ihre Augen sagten etwas, ohne dass ein Wort über ihre Lippen kam. Sie sagten: »Ich halte es gut mit mir allein aus.« Sie sagten: »Meinst du, ich weiß nicht, wo du warst? Meinst du, ich weiß nicht, was du gemacht hast?«
Er fühlte sich fern von ihr.
Sie redete mit sich selbst. Sie spürte etwas in sich, spürte Worte, die aufeinandertrafen und sich in Gegensätzlichem Platz schufen. Sie suchte nach Ursachen. War Johannes für sie auf einmal, weil er war, wie er war, schwer und kompliziert? Er war das Dürfen. Sie war das Sollen. Sie war das Gute, Züchtige, Fleißige, Ordentliche, Saubere und Treue. Er war das Gehen, das Sehen, das Neugierige.
Sie war, wie sie war. GOtt wollte, dass sie so war. GOtt wollte, dass sie keusch und züchtig lebte. GOtt wollte, dass sie keine unkeuschen Gedanken hatte. GOtt wollte in SEiner Liebe, dass es ihr gut gehe.
»Lass uns zusammen beten, denn heute ist ein gesegneter Tag für dich.« Das war der Satz, den die Mutter an dem Tag zu ihr gesagt hatte, an dem das Besondere in ihr anfing. Diese Veränderung. Dieses Plötzliche.
Auf einmal sah für sie beide alles anders aus. Auf dem Saalplatz wurden Leute mit Blut bespritzt. Mann und Frau. JEsus und seine Schwester. Er und sie. Alles in dieser Welt war dazu bestimmt, zu bluten und auseinanderzugehen. Gegen alles in der Welt gab es Zaubersprüche, aber gegen das Auseinandergehen von Geschwistern gab es keine. Von nun an gab es zwei Wahrheiten. Es gab die Wahrheit der Augen und die Wahrheit der Nacht. Sie wollten gleich sein; aber sie schafften es nicht. In ihr und außer ihr. Drinnen und draußen. Mit dem einen Auge und dem anderen. Dunkle Umrisse und dunkle Formen. Nichts war mehr gleich.
Sie und er. Miriam und Johannes. Sie waren einander fremd geworden. Von einem Tag auf den anderen. Und es ging weiter. Einfach so. Es war drei Jahre her, dass die Mutter für den gesegneten Tag gebetet hatte. Heute, als er von Martina kam, war die Trennung endgültig.
26
Es war das erste Mal, dass die Klassenlehrerin den Vater dazu überreden konnte, Miriam mitfahren zu lassen. »Wir passen auf sie auf.«
Mädchen schliefen auf dem Stock der Klassenlehrerin. Jungen schliefen einen Stock tiefer. Abends, nach dem Abendessen, in den Stunden, bevor es hieß, »Ab elf ist absolute Bettruhe«, wurde gesungen.
Sang Miriam mit? Er erinnerte sich nicht. Er erinnerte sich nur an die Refrains, die sie grölten und die er mitgrölte, als wäre er so bereit für die Welt und bereit fürs Leben – viel bereiter, als man es in diesem Dorf je werden konnte.
Dieses Singen kribbelte. Dieses Singen hatte etwas in sich. Dieses Singen ließ den ganzen Raum erzittern. Letztes Jahr hatten sie noch vom Frühtau zu Berge und von Jan und Klaas und Hein und Pits Bärten gesungen. Das war aber nichts als langweilig gegen die Lieder, die sie jetzt sangen.
Die Schwester biss sich