Aber jetzt war er hier: im Religious Reflection Room des Flughafengebäudes. Room Number 99. Islamisch, katholisch, jüdisch, protestantisch, baptistisch, buddhistisch, hinduistisch, methodistisch, amisch, hutterisch, Zeugen Jehovas, Mennoniten, Mormonen – alles war möglich in diesem Religious Reflection Room. Alles war erlaubt. Auch dass er mit dieser Unbekannten in diesem Raum war, dass er hinter ihr stehen und sie einatmen und dass sie ihm den Rücken zuwenden, dass sie vor ihm knien und so tun konnte, als sei er nicht da. All das war erlaubt.
Sie reinigte sich. Im Gebet. Im Knien. In der Andacht. In der Demut. Das wusste er. Die Säuberung des Denkens und das Hinwenden auf Ihn, auf Allah, waren Teil des Gebets. Das Gebet war ein Waschen – ein innerliches Waschen.
Frauen beteten in Moscheen hinter Männern. Das wusste er von Istanbul und von Bursa, jenem Ort am Ende der Seidenstraße, der ehemaligen Hauptstadt des osmanischen Reiches, wo er drei Tage zugebracht und Vorträge über die Medizin im osmanischen Reich gehört hatte. Eine Frau von hinten zu betrachten, während sie kniete und ihren Oberkörper immer wieder nach vorn beugte, wäre für Männer, die sich innerlich reinigen wollten, eine zu große Herausforderung gewesen. Also mussten die Frauen nach hinten. Frauen konnten offensichtlich, während sie den Männern von hinten bei deren Verbeugungen zusahen, ihre innerliche Reinigung durchführen.
6
An den fensterlosen Wänden standen in Großbuchstaben die Himmelsrichtungen: E, N, W, S. East, North, West, South. Die Frau betete nach Osten hin. Er stand im Westen. Er atmete im Westen und war ruhig. Auf den Stühlen an der Wand gen Osten hin lagen drei weitere Gebetsteppiche. Einer war blau und gelb, einer war braun und gelb, einer war grün und gelb. War gelb eine besondere Farbe? In grüne und gelbe Tücher waren in Bursa die Särge der osmanischen Herrscher eingewickelt. Immer wieder das Gelb. Hatte es eine besondere Bedeutung? Oder war es eine Farbe, die einfach herzustellen war?
Religious Reflection. Was waren religiöse Reflexionen? Bedeuteten sie, dass man hier beten musste? Durfte man auch die Bibel lesen? Durfte man Psalter laut vor sich hinsagen? »Lobe den HErrn, meine Seele, und was in mir ist, SEinen heiligen Namen.« Galt Nachdenken auch als Reflexion? Und tiefes Atmen? Galten Yogaübungen als religiöse Reflexionen?
Der Raum bot viel freie Fläche. Das würde gehen. Sie könnten hier beide ihre Reflexionen machen. Sie gen Osten auf den Knien. Er gen Westen auf den Füßen. Er zog das Jackett aus und knüpfte die Krawatte auf. Er musste die Krawatte ausziehen, wenn er Yogaübungen machen wollte.
Steif wie er war, hatte er in den letzten Jahren zunächst zögerlich, dann mit schwindendem Widerstand angefangen, in Yogastunden zu gehen. Mehr schlecht als recht bewegte er sich. Er hielt die Positionen ungenau. Es knirschte und zwickte in jedem Gelenk, und die Knochen wollten sich nicht bewegen. Er unterdrückte das Stöhnen, so gut es ging. Er atmete. Die Damen in der Yogastunde erreichten mühelos ihre Zehenspitzen, sogar mit den Handflächen. Er schaffte dieses Kunststück selbst nach drei Jahren nicht. Doch mit der Zeit begann er, sich im Atmen und Dehnen, im Zerren und Zurren mehr zuhause zu fühlen. Er wurde ruhiger.
Bevor er sich in die Hundeposition bückte, schaute er sich noch einmal um. Die Frau kniete immer noch an ihrer Stelle. Sie blickte weg von ihm. Das war ihm recht. Sie würde ihm nicht zusehen. Das beruhigte ihn. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn sie ihm zugesehen hätte.
Vor der Hundeposition musste er sich strecken und dehnen. Er bückte sich mit Schwung und erreichte tatsächlich kurz mit den Fingerspitzen die Fußspitzen. Dann schnellte er wieder nach oben. Er war steif. Er würde für den Rest seines Lebens steif bleiben. Aber es war schon besser geworden mit ihm. Das spürte er, auch wenn er noch weit davon entfernt war, beweglich zu sein. Es war sinnlos, sagte er sich, sich in den Yogastunden immer wieder mit denen zu vergleichen, die sich wie Gummi bewegen konnten. Aber er konnte nicht anders. Er bewunderte diese flexiblen Körper. Er beneidete sie. Bei ihm tat alles weh. Er bückte sich. Er richtete sich auf. Er fluchte leise. Er atmete. Er atmete tief ein, atmete tief aus. Darin war er Meister. Atmen konnte er. Und leise fluchen konnte er während der Yogaübungen. »Shoot.« Das ließ er zu. Das durfte sein. Das entspannte. »Damn.«
Er setzte sich auf den industriellen Teppichboden. Es gab keinen Ort in diesem Flughafen, der ruhiger gewesen wäre. Zwei Stockwerke unter ihnen waren Hugo Boss, Starbucks, Ralph Loren, Salvatore Ferragamo, Estée Lauder, Cartier, Louis Vuitton. Da lebten die Musik und die Gerüche und die Beleuchtungen, die Kunden anlockten. Dort lebten Leder, Parfum und Kreditkartenterminals. Er spürte, wie sehr er dieses Atmen mit geschlossenen Augen brauchte. Alles war so schnell gegangen. So schnell war er noch nie transatlantisch abgereist. Innerhalb von zwölf Stunden.
Er saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden. Schneidersitz, hatte das früher bei Miriam und ihm geheißen. Nun hieß es Lotussitz. Es war dasselbe. Doch jetzt war dieses Sitzen für ihn, wie wenn sich zwei Krummsäbel miteinander verschnüren sollten. Er zog am einen Knie, dann am anderen. Unterdrückte ein Stöhnen. »Fuck.« Schließlich saß er da, steif und aufrecht. Im Rücken und in den Hüften zerrte es. Er hielt die Augen geschlossen. Er legte die Hände ineinander. Das dritte Auge an der Stirn. Er atmete. Jetzt, wo er die Augen geschlossen hielt, sah er die Lampen an den Wänden genauer. Hinter braunen Blenden gaben sie ihr Licht zur Decke hin frei. Indirekt. Die Blenden hatten eine Marmormaserung. Aber sie waren aus Plastik. Er sah, während er mit geschlossen Augen dasaß, dass es in diesem Raum kein Kreuz gab. Es gab keine Bibel. Es gab keinen Halbmond. Und er hörte den Körper der Frau, der sich bewegte. Er spürte die Frau. Noch ein paarmal atmete er ein und aus und ließ sich durchfluten von dem, was er einatmete. Rosenduft, Himmelsrichtungen, Lampenblenden, gedämpftes Licht, Schweiß. Er betete nicht. Er atmete. Mit geschlossenen Augen. East, North, West, South. Er spürte den Atem in sich. Er legte sich auf den Rücken und streckte die Beine lang aus. Geben und Nehmen. Langsam. Ein und aus. Er gab ein Stück von sich an die Welt ab und nahm ein Stück Welt in sich auf. Was dachte die Frau? Was ging in ihr vor, wenn sie betete? Sah sie Bilder vor sich? Sah sie Wasser? Sah sie Licht? Sah sie einen goldenen Kreis? Sah sie ein bärtiges Gesicht? Sah sie Männer? Sah sie Kinder?
Er atmete. Tief. Ein. Und aus. Was bedeutete Andacht im Islam? Gab es das Wort? Wie praktizierte man Andacht in einer Synagoge? Was sagten Native Americans? Er war ruhig. Er atmete. Tief. Ein und aus. Er schlief ein. Er spürte es. Und er ließ es geschehen. Nur schnarchen, dachte er, durfte er nicht. Das hätte gestört. Schnarchen gehörte zu keiner Andacht.
7
Wie war es möglich, dass er sie nie gefragt hatte, wie alles für sie war? Weshalb hatte er sie nie gefragt, wie es für sie war, wenn ein Junge sie ansprach? Wie es für sie war, wenn sie sich in einen Jungen verliebte? Was ging in ihr vor? Was dachte sie? Was, meinte sie, war möglich und was nicht? Konnte sie den Jungen anblicken? Ihn ansprechen? Atmete sie schneller? Schaute sie nach innen und nicht mehr nach außen? Hatte sie Angst? Senkte sie den Blick? Stellte sie sich an einen Platz, wo sie hoffte, von ihm wahrgenommen, von ihm angesprochen zu werden? Oder genau das Gegenteil? Versteckte sie sich?
Und welche Worte benutzte sie? Welche Worte dachte sie? Ausgehen? Einander sehen? Miteinander etwas unternehmen? Einander nahekommen? Glück haben? Oder gab es andere Worte bei ihr, in ihrer Welt? Umeinander werben? Um sie anhalten? Sie wollen? Sie nehmen wollen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Eines Tages war bei ihm ein Brief eingetroffen: »Matthias und ich werden heiraten. Ich weiß, wie schwer es Dir fallen würde. Du brauchst nicht zu kommen, wenn Du nicht willst. Aber wir würden uns freuen.«
Er hatte ihnen ein Teeservice von der Töpferin im Dorf geschenkt – und war nicht gekommen. »Ich wünsche Euch alles nur erdenkliche Gute. Möget Ihr glücklich miteinander werden.«
Platituden. Je platter er in der Sprache bleiben konnte, desto weniger musste er von sich preisgeben. Desto weniger musste er über sich und sie, über seine Welt und ihre Welt, über seinen Körper und ihren Körper nachdenken. Also blieb er bei den Poesiealbumsätzen: Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen! Poesiealbumsätze konnte man von sich geben, ohne dass sie einen berührten.