Der HErr segnete Miriam. Der HErr behütete sie. Sie war treu und gehorsam. Um SEines und SEiner Liebe willen. Jeder Schmerz kam von IHm. Jedes Leiden kam von IHm. Jeder Segen kam von IHm. Alles, was in ihr geschah, kam von IHm. Sie konnte und sie durfte es annehmen. ER würde alles einrichten. Das war, da war sie sich sicher, gewisslich wahr.
22
In Rahels Zimmer hing ein langes Regalbrett über dem Bett. Zwei chinesische Vasen standen darauf. Rahel war aus dem Elternhaus ausgezogen, ohne auszuziehen. Sie lag auf ihrem Bett unter dem Regal. Er spürte ihren Atem. »Soll er doch toben, der Alte«, sagte sie. Das Leben und das Atmen waren am Abgrund. Sie musste am Abgrund leben, damit sie sich spürte. Es roch nach Ernte 23, roch nach Chanel, roch nach Jeans, die sie nicht wusch. »Wenn sie kaputt sind, werfe ich sie weg und kaufe mir neue.« Da waren das hautenge T-Shirt und der lange Zipfelrock, da waren der Minirock und die Jeans, die hart in sie schnitten. Alles war auf einen Stuhl in der Ecke geworfen. Deshalb musste er sich aufs Bett setzen. Sie hatte sich die Haare gefärbt und die Fingernägel. Hellrot und schwarz. Wie sie zuhause leben und nicht zuhause sein konnte, war ihr Geheimnis.
Sie lehnte sich zurück ins Kissen. Da war sie allein. Nur das Licht. Nur die Tapeten. Nur das Atmen. Nur die Wärme unter der Bettdecke. »Ich will mehr vom Leben als nur das hier«, sagte sie und zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. »Diese Dummköpfe«, sagte sie. »Beschränkt«, sagte sie. »Alle.« Sie sagte: »Die sollen aufpassen. Ich studiere BWL, und dann drehe ich denen allen den Kragen ab.«
Johannes saß auf dem Bett und nickte. Sie war zuhause in ihren Dunkelheiten. Das gefiel ihm. Er hätte auch gern so in seinen Dunkelheiten gewohnt. Sie sagte: »Ich glaube, ich könnte mich prostituieren.«
»Nur, damit du wegkommst?«
»Nur, damit ich wegkomme.«
Es gab eine Dunkelheit, aus der sie trank. Es gab eine Dunkelheit, in der sie aufging und die in ihr aufging, langsam und weich wie eine sich öffnende Hand. Sie ließ sie in sich wachsen. Dunkel und dankbar. »Ich habe das Gefühl, dass ich geopfert werde.«
»Von dir selbst.«
»Wenn es sonst niemand tut.«
Sie sagte: »Ich bin keine Magd, nicht seine und auch keine Magd GOttes. Der HErr mag mich schlagen, er mag mich schlagen in seiner Frömmigkeit. Die Strafe macht ihn nur kleiner – und den HErrn auch.«
»Er will doch nur, dass du sanftmütig, fromm und gehorsam wirst.«
»Ich werde lieber Börsenmaklerin oder Puffmutter, als dass ich werde wie die. Ich bin nicht wie die, auch wenn mein Alter das denkt.«
Ihr Vater erlitt alles, IHm zuliebe. Sanftmütig wollte er sein und in IHm aufgehen. Gehorsam musste er sein, IHm gehorchen. Er trug eine dünnrändrige Vaterbrille. Er sah die Dunkelheiten in ihrem Gesicht. Er wollte sie ihr austreiben. Ihr zuliebe. Er tat, was er ihr und IHm zuliebe tun musste, wie in einer Ohnmacht. Dies war, was der HErr ihm und seiner Familie auferlegt hatte. Er musste stark sein. In IHm.
Sie sagte: »Mein Alter ist ein Idiot.« Es war sinnlos, ihm etwas erklären zu wollen.
Gegen ihren Alten trug sie ihren Körper in die Welt. Dass ihr Alter dann in ihr Zimmer kam und ihr die Regeln der Welt erklärte, in bester Absicht und voller Liebe, gehörte dazu.
Sie sagte: »Weißt du, das tropft an mir ab wie Öl.«
Johannes beugte sich über sie. Er küsste ihre Lippen. Er mochte diesen Geschmack nach Tabak. Ernte 23. Er hätte ihn gern noch viel stärker geschmeckt. »Sei gut zu dir«, sagte er. Er schmeckte den Rauch an ihren Fingern, er schmeckte die Augen und das Lächeln, das sie ihm aus der Ferne schenkte. Sie war da. Sie stupste ihn an und sagte: »Feigling.«
Jeder Geruch, jede Geste, jedes Kichern. In diesem Zimmer.
Sie sagte: »Er hat Angst zu versagen, wo ihn GOtt doch stark gemacht hat. Weil er mich nicht unterkriegt, schämt er sich – vor sich selbst, vor den Gemeindeältesten, vor mir und vor GOtt. GOtt hat ihn als Mann erschaffen. Ist er schwach, lebt er nicht im HErrn.«
Er sagte: »Quälst du ihn gern?«
Sie sagte: »Und wie.«
23
Der Totengräber, der eigentlich Kurt Krüger hieß, sagte: »Stampft eine Frau mit, die ihre Tage hat, dann hält das Kraut nicht.« Es gab im Dorf keinen Stammtisch. Aber der Totengräber wäre zum Stammtisch gegangen, wenn es einen gegeben hätte. Aber weil es keinen gab, musste er sein Bier zuhause trinken, am Küchentisch. Allein. Außer wenn Johannes da war und sich zu ihm setzte.
Der Totengräber roch nach Gärung. Er roch nach Schweiß. Er roch nach Lehm. Zu Johannes sagte er: »Ich bin der größte Arbeitgeber im Dorf. Niemand hat so viele Leute unter sich wie ich.«
Als Gast lachte man über die Witze des Gastgebers. Als Gast, wenn man die Tochter des Gastgebers besuchen wollte, lachte man laut über die Witze des Gastgebers.
Die Augen des Totengräbers lagen tief in seinem Schädel. Die Frau war ihm weggestorben, einfach so, niemand wusste, warum. Vor fünf Jahren. Martina war zehn gewesen, Johannes neun. »Der HErr schenkt; der HErr nimmt; der HErr prüft.« Das sei jetzt eine Prüfung, die der HErr dem Totengräber auferlegt habe, sagte der Pfarrer. Es war seltsam, an diesem Grab zu stehen, das der Totengräber selbst ausgehoben hatte und das nach Tannenreis und Orchideen roch. Seltsam war, dass dem Totengräber die Frau einfach wegsterben konnte. Johannes hatte bis dahin geglaubt, dass die, die auf dem Gottesfeld arbeiteten, Pfarrer und Totengräber und deren Familien, selbst nicht sterben könnten.
»Gut, dass du da bist«, sagte der Totengräber. »Martina hat schon nach dir gefragt. In ein paar Minuten ist sie wieder da.« Sie waren nicht mehr zehn und neun. Sie waren nicht mehr wortlos. Sie waren nicht mehr unterwürfig. Der Totengräber Krüger war so anders als der Zahnarzt Maiwald. Gelb und braun waren die Finger des Totengräbers. Von den Reval, vom Lehm und von der Erde. Den Hosenladen seiner schwarzen Cordhosen hielten zwei dicke Sicherheitsnadeln zusammen. Johannes fühlte sich wohl beim Totengräber am Küchentisch. Da war es gemütlich, auch wenn er spürte, wie dem Totengräber die Worte ausgingen. Johannes einfach hinauf in Martinas Zimmer schicken, solange Martina noch nicht zuhause war, konnte er nicht. Der Totengräber sagte: »Auf den Straßen spüre ich die Augen, die der Martina hinterher fliegen. Sie bringt sie an den Kleidern mit nach Hause.«
Johannes lachte. Er verstand den Totengräber viel besser als den Zahnarzt.
Der Totengräber sagte: »Die Martina ist sauber. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Der Totengräber sagte: »Weißt du, ich wollte ihr das Malen schon verbieten, weil sie sich damit so ausstellt. Vor allen Leuten. Aber sie hat mich nur ausgelacht«, lachte der Totengräber. »›Dad‹, hat sie gesagt, ›ich bin alt genug, okay?‹ Also lasse ich sie halt machen. Ihr Lachen überrollt mich wie eine Dampfwalze. Da gehe ich ihr lieber aus dem Weg.«
Er zündete sich eine neue Reval an. »Der Stauch ist an einem Herzinfarkt gestorben. Das hat die Obduktion ergeben. Übermorgen kann er endlich beerdigt werden.«
Johannes nickte. »Wie lang ist der jetzt schon tot?«
»Zwei Wochen. Aber so ist es, wenn man allein in Urlaub reist