»Ah, da haben wir es ja. Willst du mir das erklären?«
Er drehte mir das Smartphone zu, ließ mich den Beweis meiner Schuld sehen. Es war tatsächlich meine Map. Das war der Bildausschnitt, den ich gewählt hatte, die gleichen pastellvioletten Häuser … Nur das Zielkreuz war gewandert, befand sich jetzt etliche Straßenzüge südlicher als zuvor. Mein Erwählter musste es neu platziert haben. Fool!
»Hier.« Der Pfarrer reichte mein Smartphone an den Ministranten weiter. »Weit kann er noch nicht sein. Nimm dir Hilfe mit. Sucht ihn und bringt ihn zurück!«
Der Ministrant nickte und verschwand.
Noch ein Blick durch die Cathedral. Die meisten Betenden hatten ihre Köpfe extra tief gesenkt, doch das Murmeln war leiser geworden. Sie lauschten. Kaum würden sie die Cathedral verlassen, würden sie sich die Mäuler über mich zerreißen. Und dann würde irgendwer meine Mutter ins Bild setzen …
»Du bist still geworden«, sagte der Pfarrer. »Siehst du nun also ein, Mädchen, dass du vom Weg abgekommen bist? Dass du gesündigt hast?«
»Ich verspreche Euch, ich wollte niemandem etwas Böses.«
»Darüber wirst du im Loch nachdenken können.«
Ich starrte ihn an, wollte protestieren, doch die Worte blieben mir auf den Lippen hängen. Was hatte ich erwartet? Drei Ave-Maria und alles wäre wieder gut? Es waren schon Leute für weniger ins Loch gewandert.
Ich stand auf, folgte, sträubte mich nicht. Es hätte keinen Sinn gehabt.
Der Keller der Cathedral war niedrig. Deutlich weniger beeindruckend als die große Halle darüber und entschieden weniger bunt. Der Pfarrer brachte mich in eine Zelle so eng, dass ich mit drei Schritten von einer Ecke zur gegenüberliegenden kam. Licht fiel nur aus dem Loch in der Decke, von dem aus die Gläubigen aus dem Vorraum der Cathedral anklagend und sensationsgeil zu mir herunterschauten. Eine Räucherschale stand an der unverputzten Betonwand. Ihr Weihrauch hing so schwer in der Luft, dass ich meinte, ihn im Schummerlicht tatsächlich nebelig wabern zu sehen.
»Meditiere über deine Sünden«, sagte der Pfarrer. »Und dann bitte Gott um Vergebung, Succubus!«
Jetzt war es auch schon egal. Ich antwortete ihm mit einem Lächeln voller Zähne.
Er schnaubte, verließ die Zelle und schlug die Tür ins Schloss. Mein Smartphone behielt er.
Einen Augenblick lang starrte ich wie gelähmt auf die geschlossene Tür. Dann drückte ich dagegen. Sie gab nicht nach. Eine Klinke existierte nicht und auch kein Terminal für einen Code. Dort kam ich also nicht raus, bis mich nicht jemand holte.
Allerdings gab es da noch das Loch in der Decke. Ich trat darunter, ignorierte die ungnädigen Blicke der Menschen über mir, streckte mich, so hoch ich konnte. Vergeblich. Auch wenn ich sprang, fuhren meine Finger nur durch die dicke, weihrauchschwangere Luft. Noch mal. Noch mal. So hoch ich konnte. Keine Chance.
Eine Frau in schmutzigen High Heels stand oben und lachte mich aus.
Das war es also. Ohne Hilfe kam ich nicht heraus und wenn ich den herablassenden Blick der verdammten Frau zum Maßstab nahm, dann konnte ich auf Hilfe lange warten.
Seufzend lehnte ich mich gegen den kalten Beton und zwang mich, nachzudenken. Es musste einen Weg geben. Es musste einfach. Ich hatte schon zu viel verloren, um aufzugeben. Mutter würde mich umbringen. Da sollte ich mich vorher wenigstens amüsieren.
Ich stieß mich von der Wand ab, ging mit drei Schritten durch die Zelle.
Mein Erwählter wartete am geheimen Treffpunkt auf mich. Da war ich mir sicher. Wieso sonst hätte er fliehen sollen? Wieso sonst hätte er das Zielkreuz auf der Map verschoben? Er hatte ihnen einen Beweis dagelassen. Etwas, dem sie nachjagen konnten. Deshalb ließen sie mich hier schmoren, ohne Verhör, ohne Guards. Eine bessere Chance zur Flucht würde ich nicht bekommen.
Drei Schritte zurück.
Meine Mittel waren begrenzt. Ich hatte meinen Mantel, doch es gab keine Stelle oben am Loch, wo ich ihn hätte befestigen können, keine Möglichkeit, daran hinaufzuklettern. Damit blieben mir das bisschen Salz in den Taschen und der Flyer mit meinen Wünschen für eine erfüllte Begegnung. Zaubermittel, klar, aber ich hätte nicht gewusst, wie ich damit eine Leiter hätte erschaffen können.
Noch mal drei Schritte durch die Zelle, wieder und wieder. Im Laufen rieb ich mir die Farbe von den Lippen, lächelte mein trotziges Succubussmile ins Dämmerlicht hinein.
Als Mutter angefangen hatte, mich Hexe zu nennen, hatte ich beschlossen, eine zu werden. Und entgegen allen Aberglaubens hatte das nichts mit satanischen Riten zu tun. Nur mit ein paar simplen Zutaten und guten Wünschen.
Jetzt nannten sie mich Succubus. Da wurde es wohl Zeit, mich unter die Dämonen zu begeben.
Ich hielt inne, schloss die Augen, atmete flach, um dem Weihrauch zu entgehen, konzentrierte mich.
Noch nie vorher hatte ich etwas beschworen. Trotzdem war ich mir sicher: Wenn es einen Ort dafür gab, dann war es dieser hier. All die Menschen mit ihrem Glauben, ihren unterdrückten Gelüsten, ihren unausgesprochenen Wünschen und den unerfüllten Hoffnungen. All die brodelnde Energie. Wäre ich ein Dämon, wäre ich nie weit von der Cathedral.
Zuerst brauchte ich ein Opfer.
Die meisten Leute denken an Blut und geschlachtete Tiere, wenn sie von Zauberopfern hören. Manche sogar an Mord. Doch das ist Unsinn. Eine echte Hexe schadet niemandem. Sie gibt etwas von sich selbst auf, um ihren Zauber zu wirken – um zu zeigen, dass es ihr ernst ist.
Ich hatte nicht viel. Nur meinen Flyer. Der Gedanke, ihn wegzugeben, behagte mir gar nicht. Er war für einen letzten Zauber vor der großen Vereinigung bestimmt. Er sollte machen, dass alles klappte, und mehr noch: dass es schön wurde. Er sollte verhindern, dass ich verletzt wurde. Er war meine Safety. Ich brauchte ihn.
Bedauerlicherweise machte ihn das zum idealen Opfer.
Es half nichts. Was nützte mir Safety für ein Treffen, zu dem ich nicht erscheinen konnte?
Wehmütig zog ich den Flyer aus der Mantelinnentasche und kniete mich damit neben die Räucherschale. Dort schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf das, was ich mit meinem Zauber erreichen wollte. Während ich den Flyer in die Glut drückte, malte ich mir einen Dämon der Sinnlichkeit aus. Ich versuchte mir vorzustellen, was meine Mutter und alle anderen in mir sahen. Die Verführerin mit den roten Lippen, den dichten Wimpern und den blonden Locken. Doch die Idee blieb abstrakt, sprach nicht zu mir.
Also ließ ich meine Gedanken treiben, fühlte nach Begehren, wie ich es kannte. Das Bild eines Mannes drängte sich in mein Bewusstsein. Mit nackter Brust und breiten Schultern, so wie sich sonst nur die Engel zu zeigen wagten. Stumm rief ich ihn herbei. Ich öffnete mich, ließ meine eigene Lust, mein unerfülltes Verlangen durch meinen Körper wallen. Meine Brüste spannten. Meine Lippen kribbelten voller Ungeduld. Das sehnsuchtsvolle Ziehen in meinem Unterleib tat beinahe weh.
»Komm zu mir!«, wisperte ich. »Ich brauche dich!«
Die Flammen leckten am Flyer hinauf und verbrannten mir die Finger. Ich zog sie nicht weg.
»Komm!«
»Es wäre einfacher, wenn du mir hilfst«, sagte eine samtige Stimme.
Ich schlug die Augen auf, zog die Hand aus dem Feuer und starrte auf den Mann vor mir. Er sah tatsächlich aus wie ein Engel. Ein Engel ohne Flügel. Groß und stark. Nackt. Sein Haar war golden wie meins und in seinen warmen Augen loderte freudige Begierde.
Ich stemmte die Hand gegen die Wand, ließ den Beton meine Wunde kühlen und zog mich gleichzeitig auf die Füße.
»Du hast mich gerufen, Hexe. Hier bin ich.« Er beugte sich über mich, schlug meine Kapuze zurück, strich mir durchs Haar, betrachtete mich forschend, grinste. »Was sollen wir nun miteinander anstellen?«
In der Enge der Zelle standen wir Brust an Brust. Ich hatte Schwierigkeiten