Ich hielt den Kopf gesenkt, klammerte mich an mein Smartphone und wanderte durch die Reihen der eng stehenden Stahlbänke bis zur dritten von hinten. Wir trafen uns immer auf der dritten von hinten. Dort setzte ich mich also. Das Metall war kalt, selbst durch meinen langen Mantel hindurch.
Ich ignorierte das Tuscheln um mich herum, die Mischung aus Furcht, Missgunst und Übereifer, die diesem Ort eine so unangenehme Energie verlieh. Auf meinem Smartphone rief ich eine Passage des Hohelieds Salomons auf und tat, als würde ich darüber meditieren.
Tatsächlich kannte ich die Worte auswendig. Fast alle. Hatte ich sie doch benutzt, um meinem Erwählten zu zeigen, was ich von ihm begehrte.
Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen
und sehen, ob der Weinstock schon treibt,
ob die Rebenblüte sich öffnet,
ob die Granatbäume blühen.
Dort schenke ich dir meine Liebe.
Ich biss mir auf die juckenden Lippen. Ich fürchtete, hoffte, schwitzte. Vielleicht kam er ja gar nicht. Vielleicht hatte er heute keinen Dienst und ich dürfte noch etwas warten. Nur noch eine Nacht oder zwei, eine kurze Schonfrist …
»Wofür betest du, Tochter?«
Meine Hand am Smartphone verkrampfte sich beim Klang seiner warmen Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob vor Freude oder vor Furcht.
Am liebsten hätte ich ihn nicht angesehen. Jeder falsche Blick konnte uns verraten. Doch ein Gespräch ganz ohne Blick wäre noch verdächtiger gewesen, also sah ich auf. Langsam, scheu, so wie Mutter es mich gelehrt hatte.
Ich nannte ihn Father, doch er war so jung wie ich. Unter dem weißen Chorhemd waren seine Schultern schmal, der Bauch ein wenig nach außen gewölbt. Fern von dem Bild der physischen Stärke, das die Engel in den Windows abgaben, durchdrang ihn etwas Besseres: Zärtlichkeit. Ich sah sie in seinem sanften Gesicht, in seinen ruhigen Bewegungen, in der geschickten Handarbeit, mit der er hier in der Cathedral alles an seinem Platz hielt. Er lächelte mich an und ich hätte gern zurückgelächelt. Nur aus Vorsicht ersparte ich etwaigen Zuschauern mein ach so verruchtes Succubussmile.
»Was ist, Tochter?«, fragte mein Erwählter und ließ sich neben mir auf der Bank nieder. »Bedrückt dich etwas?«
Ich senkte den Blick zurück auf mein Smartphone. »Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass heute ein besonderer Tag sein könnte. Ein Tag, an dem etwas Gutes passiert.«
»Nun, oftmals haben wir mit solchen Gefühlen recht. Nennen wir es himmlische Eingebung … Ich sehe, du liest in der Bibel. Eine bestimmte Stelle?«
Ich reichte ihm mein Smartphone. »Schaut selbst, Father.«
»Du, den meine Seele liebt«, las er vor, »sag mir: Wo weidest du die Herde? Wo lagerst du am Mittag? – Eine interessante Passage. Voller Fragen, die gewiss jeder von uns schon einmal auf den Lippen hatte. Weißt du eine Antwort darauf, Tochter? Deine persönliche Antwort, meine ich.«
»Es geht noch weiter. Swiped zur nächsten Seite.«
»Wozu soll ich erst umherirren bei den Herden deiner Gefährten?«, rezitierte er unbeirrt weiter, obwohl er nichts davon auf meinem Smartphone lesen konnte. Ich hatte dort eine Map versteckt, die Adresse für unser geheimes Treffen. »Wenn du das nicht weißt, du schönste der Frauen, dann folge den Spuren der Schafe, dann weide deine Zicklein dort, wo die Hirten lagern.«
Er gab mir mein Smartphone zurück und ich widerstand der Versuchung nachzusehen, ob er klug genug gewesen war, die Map direkt zu löschen.
»Salomons Hohelied spricht zu mir, Father. Mehr sogar noch, wenn Ihr es lest.«
»Du sehnst dich nach einer Vereinigung. Mit Gott. Das ist überdeutlich.«
»Ich … ja. Ich fühle mich bereit. Ich meine, so bereit man für so eine Vereinigung sein kann.«
»Gut.« Ich schaute nicht auf, aber ich hörte sein Smile. »Dann bin ich mir sicher, dass der Herr dich erhören und deinen Wunsch gewähren wird. Noch heute. Der Weg wird nicht leicht sein, aber wenn du ihn mit Mut gehst, wirst du dein Ziel gewiss erreichen. Wer weiß, vielleicht schon vor dem Nachmittagsgebet.«
»Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein.«
»Sind das die Dinge, die Gott uns zuteilwerden lässt, nicht oft?« Er stand auf. »Ich überlasse dich damit wieder dem Gebet, Tochter. Mögest du finden, was du suchst.«
Sein Ministrantenrock raschelte, als er ging.
Ich schloss die Augen, faltete die Hände um das Smartphone, tat, als würde ich beten. Meine Gedanken aber hingen nicht bei Gott und schon gar nicht in der Cathedral. Sie ruhten auf den Decken, die ich in den letzten Wochen nach und nach an unseren geheimen Treffpunkt getragen hatte. Es war die Abstellkammer einer Schule, die mittlerweile seit fast zwei Jahren für Umbauarbeiten geschlossen war. Die Baustelle lag still, die wertvollen Arbeitsgeräte waren zu anderen Einsatzorten geschafft worden. Deshalb hingen auch keine Wachdrohnen in der Luft darüber.
Wir würden in wunderbarer Stille liegen. Nur mein Erwählter und ich, die Decken und unser Atem. Er würde durch den Eingang für die Jungen eintreten. Ich durch den für die Mädchen. Niemand würde uns zusammen sehen. Niemand würde zu uns hereinkommen. Sollte jemand anderes zur falschen Zeit neugierig werden, würden Salz und Salbei ihn von der Schwelle vertreiben.
Ich vertraute auf meinen Zauber. Auf die Kraft meiner Wünsche und meiner positiven Gedanken.
Am Eingang unseres Verstecks gab es eine Stelle, an der der Asphalt aufgeplatzt war und weiche Erde frei lag. Dort würde ich den Flyer mit meinen Worten von Zärtlichkeit und Vereinigung vergraben, würde ihn mein Sehnen tief in das Innere der Welt tragen lassen. Dann würde ich gehen, mich auf die Decken legen und endlich herausfinden, wie es sich anfühlte, begehrt und berührt zu werden. Ich würde meinen Körper erkunden, genauso wie seinen. Und wer weiß, vielleicht würde ich sogar seinen Namen erfahren. Ich würde …
Das Smartphone glitt mir aus den Händen. Ich schrak auf, versuchte es zu fangen, doch eine Hand an meiner Schulter presste mich zurück.
»Tochter«, sprach eine scharfe Stimme. »Sag, was hast du getan?«
Ich schaute auf, schrumpfte unter dem strengen Blick des Pfarrers. »Verzeiht«, krächzte ich. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
»Tu nicht so. Ich habe schon länger ein Auge auf dich. Du versuchst, meine Ministranten zu verführen.«
»Was?« Das Blut toste mir in den Ohren. Der Schweiß machte meine Handflächen glitschig. »Aber ich …«
»Überleg dir gut, was du als Nächstes sagst.« Der Pfarrer streckte die offene Hand aus und der Ministrant zu seiner Linken reichte ihm mein Smartphone. »Lügen werden dir nicht helfen.«
»Ich weiß nicht, was Ihr hören wollt«, log ich verzweifelt.
Da waren nur Psalmen und Bibelverse auf meinem Smartphone. Dazu eine Handvoll Nachrichten von Mutter. Nichts, was mich in Verruf bringen konnte, wenn mein Erwählter nur die Map gelöscht hatte. Er musste einfach.
Der