Rüeggisberg. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182825
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das Dach des Reaktors weggesprengt wurde. Durch das jetzt offene Dach gelangte Luft in den Reaktor und das heisse Grafit geriet in Brand. Resultat: Ein noch nie erlebter oder simulierter GAU in einem Atomkraftwerk.

      Dieser Spielpark in Prypjat hätte am 1. Mai 1986 eröffnet werden sollen. Es kam nie dazu.

      «Was passierte nach dieser Explosion?», fragte Ruth Bär nach.

      «Frau Bär, sowohl die AKW als auch die Stadt waren Vorzeigeobjekte der damaligen UdSSR, die Behörden der Region stolz darauf. Um den Ruf ihrer beiden Juwelen nicht zu schädigen, hielten sie sich mit Informationen 36 Stunden zurück, die Bevölkerung wurde im Ungewissen gelassen, Moskau schon gar nicht orientiert. Höhepunkt dieser Desinformationskampagne: Der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, erfuhr vom GAU erst drei Tage nach dem Unfall – und das erst noch von schwedischen Ingenieuren, die, in einem eigenen Atomkraftwerk arbeitend, eine ungewohnte atmosphärische Veränderung über Europa festgestellt hatten.»

      Als man endlich das Ausmass der Katastrophe realisiert hatte, war es für viele Menschen zu spät, die ersten Helfer am Unfallort – mit völlig unzureichender Schutzkleidung – bereits Stunden später tot. Niemand war auf diesen GAU vorbereitet, entsprechend mangelte es an allem, nicht einmal für die Kinder waren genügend Jodtabletten vorhanden, die Feuerwehr und Polizei unterdotiert, Schwangeren befahl man umgehend eine Abtreibung. Erstaunlicherweise kam es zu keiner Massenpanik, weil die Behörden immer wieder beteuerten, die Sache vollständig unter Kontrolle zu haben. Sie sprachen denn auch nur von einem «Störfall», der sich erst noch mitten in der Nacht ereignet hatte und somit praktisch von niemandem wahrgenommen wurde.

      «Was man sich unbedingt in Erinnerung rufen muss», erklärte Herrlich, «ist der Umstand, dass die Rettungskräfte seinerzeit einfach abkommandiert wurden, sie Befehle auszuführen hatten. Es gab keine Befragungen, wer sich denn freiwillig melden würde. Tausende von Arbeitern und Armeeangehörigen wurden in den Wochen und Monaten nach der Katastrophe zu Tätigkeiten am und im Reaktor gezwungen, die den sicheren Tod bedeuteten, auch Jahre später. Widerstand zwecklos.»

      Am Nachmittag des 27. April, 36 Stunden nach der Explosion, musste es plötzlich schnell gehen, sehr schnell. Mit über 1000 Bussen wurden die 45 000 Bewohnerinnen und Bewohner aus Prypjat innerhalb weniger Stunden evakuiert und in die Region von Kiew gefahren. Überall, wo gerade Betten zur Verfügung standen, brachte man sie unter: in Turnhallen, Altersheimen, Spitälern. Um eine Massenpanik zu verhindern, versprach man ihnen, dass sie in drei Tagen nach Prypjat zurückkehren könnten und somit nur das Notwendigste mitzunehmen hatten. Tiere mitzunehmen war nicht erlaubt, aus den bereits erwähnten Gründen. Aber: Die Menschen aus Prypjat sollten ihre Wohnungen und Tiere nie mehr sehen. Ähnlich erging es den Bewohnenden unzähliger Dörfer in der Region, die Menschen wurden zwangsumgesiedelt, viele ihrer Wohnorte zerstört und die Häuser vergraben, weil kontaminiert.

      «Holger, ich habe gelesen, dass die Häuser in Prypjat leer und zerstört sind. Wie denn das?»

      «J. R., das ist korrekt. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde gestohlen, die Stadt im grossen Stil geplündert. Das alles passierte vor allem in den Jahren 1990 und 1991, als die Sowjetunion zerbrach, sich auch aus der Ukraine zurückziehen musste und die örtlichen Behörden mit der Situation völlig überfordert waren. »

      «Was ist mit dem Diebesgut passiert?»

      «Praktisch ausnahmslos wurde es auf dem Schwarzmarkt verkauft: Möbel, Velos, Motorräder, Autos – wobei viele Fahrzeuge gar nicht mehr funktionierten, weil von der Radioaktivität fahruntüchtig gestrahlt. Speziell Elektronik wurde gut verkauft, zum Teil aus der Kommandozentrale einer riesigen Radarstation ausgebaut und gestohlen.»

      «Stimmt, ich habe einen Bericht darüber gelesen. Streng geheim, hiess DUGA Radar.»

      «J. R., brillant», sagte HH zum Erstaunen aller, er, der mit Komplimenten normalerweise hinter dem Berg hielt. «Er war 800 Meter lang, bis zu 150 Meter hoch, riesig, und ist noch heute aus grosser Distanz zu sehen.»

      Was weder Plünderer noch Käufer, die sich ein vermeintliches Schnäppchen gesichert hatten, wussten: Praktisch ausnahmslos wiesen die gestohlenen Güter eine starke radioaktive Strahlung auf.

      «Holger, wie kann aber eine Stadt unbewohnbar bleiben, du aber konntest sie besuchen? Da geht für mich etwas nicht auf …», argumentierte Ritter.

      Es war in der Tat eine gute Bemerkung, die HH jedoch leicht zu kontern wusste: Der 2017 über die Havarie gestülpte Sarkophag verhindert zwar das Austreten von Radioaktivität in die Luft. Die Böden aber bleiben auf ewig mit Plutonium 239, Cäsium 137 und Strontium 90 belastet, ganz zu schweigen von den 190 Tonnen mit schwerst radioaktivem Material im Inneren des Sarkophags, die nicht entsorgt werden können und in Zukunft weitere schwere Umweltschäden anrichten werden. Diese Schwermetalle sinken im Laufe der Zeit immer tiefer ins Erdreich. Zwar hat man mit dem Errichten des Sarkophags – der mit seiner silbernen Aussenhülle und mit viel Fantasie an die silberne Toblerone-Produktionsstätte in Bern erinnert – in seinem Innern auch eine ferngesteuerte Art von Entsorgungsanlage gebaut, welche die vorhandenen 190 Tonnen Material umlagern und neu in Särge umverteilen soll – aber wohin damit?

      Besucher dürfen deshalb die vorgeschriebenen Pfade nicht verlassen, dürfen nichts vom Boden aufheben, die benutzten Schuhe wirft man nach dem Besuch am besten gleich weg. Der Besuch des Geländes ist einzig mit örtlichen «Reiseleitern» ab Kiew möglich, es gibt bis nach Prypjat drei scharfe militärische Kontrollen.

      «Ich selber bin kein Gegner von Atomenergie, denke auch, dass die Kernkraftwerke in Deutschland und auch in der Schweiz auf einem technisch anderen Niveau als die alten UdSSR-Reaktoren sind, dennoch hat mich der Besuch betroffen gemacht. Erinnern wir uns: Es war menschliches Versagen, das zur Katastrophe geführt hat. Wäre das theoretisch nicht auch bei uns in Westeuropa möglich? Nicht alle AKW sind über jeden Zweifel erhaben …», sagte HH, ohne jedoch seinen französischen Kollegen anzuschauen.

      «Das möchten wir uns nicht vorstellen», sagte Ruth Gnädinger, «im 30-Kilometer-Radius von Mühleberg liegen zum Beispiel Fribourg, Bern und Thun, um nur diese zu nennen.»

      «Stimmt, und diese müssten von einem Tag auf den anderen aufgegeben werden. Dieses Chaos wäre beispiellos.»

      «Verkehrszusammenbruch, Plünderungen, Aggressionen mit vielen Toten.»

      «Frau Gnädinger, denken wir die Sache lieber nicht zu Ende. Was verblüffend ist: Überall in Prypjat hat sich die Natur zurückgemeldet, durch Beton und Asphalt hindurch. Zum Teil sieht man gewisse Gebäude gar nicht mehr, weil sie inzwischen hinter hohen Bäumen versteckt sind.»

      «Also wie in Franz Hohlers Die Rückeroberung.»

      Denkmal für jene Männer, die zuerst an die Arbeit mussten, die sogenannten «Liquidatoren» …

      Holger Herrlich reichte während seines Vortrags zum besseren Verständnis Fotos vom Sarkophag und von Prypjat auf seinem Handy herum. Nach diesen Ausführungen nahm Joseph Ritter den Faden wieder auf, um den Kreis zu schliessen, direkt in Richtung Victorija Rudenko, wollte von den Damen nochmals – und mit Nachdruck – wissen, ob es nicht zuletzt wegen Nazar Klitschko «atmosphärische Störungen» zwischen Inhaberin und Geschäftsleiterin der Zürcher Niederlassung gebe, was wiederum verneint wurde, womit sich der Berner Kriminalist aber nicht zufrieden gab, nicht zufriedengeben konnte.

      «Frau Bär, jetzt erleben Sie live, wie hartnäckig Ermittler sein können. Erinnern Sie sich noch, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen Frau Rudenko eingestellt wurde?»

      «Fiona, also Frau Decorvet, ist diese Verpflichtung nicht eingegangen, ohne vorher Erkundigungen über Frau Rudenko einzuziehen, die Auskünfte waren hervorragend, weshalb die Frau nach einer sechsmonatigen Probefrist fest angestellt wurde. Zur vollen Zufriedenheit von Fiona», worauf Ruth Gnädinger und Luzia Cadei beide mit einem «Ja, das stimmt» die Worte