Rüeggisberg. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182825
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begeistern, bevor man sich zum Schlummerbecher in einer der vielen Bars traf.

      Es war keine eigentliche Überraschung, dass am nächsten Morgen Fiona, Luzia, Prisca und die beiden Ruth sich – ohne dies untereinander abgesprochen zu haben – bereits um 7 Uhr auf dem obersten Deck der Alberta Imperator trafen, um die grossartige Landschaft vor Stockholm nicht zu verpassen.

       Eine leere Handtasche (Samstag, 8. August)

      Fiona Decorvet hatte die Situation für und in Stockholm richtig eingeschätzt, die Füsse wurden während beinahe zwei Tagen arg strapaziert, das vorgesehene Programm absolviert, sogar samt dem Junibaken mit dem Kindermuseum. Und am Abend des 7. August hatte man «auswärts hervorragend gegessen», wie nicht nur Ruth Gnädinger festgestellt hatte, im Fem små hus, in der Gamla Stan, einem Restaurant mit fünf miteinander verbundenen Altstadtkellern. Nicht billig, aber top.

      Das Auslaufen der Alberta Imperator wurde für den Samstag, 8. August um 14 Uhr angesetzt, mit Kurs auf Hamburg. An diesem Vormittag ebenfalls noch kurz als Touristen unterwegs waren fünf Kriminalbeamte, die einen dreitägigen internationalen Kongress in Stockholm besucht hatten, der am späten Nachmittag des 7. August zu Ende gegangen war. Joseph «J. R.» Ritter, Dezernatsleiter Leib und Leben bei der Kantonspolizei Bern, hatte bereits vor dem Kongress mit vier seiner ausländischen Kollegen abgemacht, sich das Zwischenstück der Rückreise nach Zürich ab Stockholm bis nach Hamburg mit der Alberta Imperator zu leisten, auf eigene Kosten, versteht sich. Begleitet wurde er von Commissario Luigi Bevilaqua aus Milano, von Holger «H H» Herrlich, Chef der Davidwache in Hamburg, von François Hommard, Commissaire aus Lyon, und von Adalbert König von der Landespolizeidirektion in Innsbruck. Auch diese fünf Herren trafen – wie die fünf Schweizerinnen – rechtzeitig vor dem Kreuzfahrtschiff ein, wo, wie inzwischen überall üblich, die Securityleute des Schiffes die Passagiere zuerst anhand ihrer Bordkarten, anschliessend mit Scanner die Rucksäcke und Handtaschen kontrollierten.

      «Lustig, die Herren vor uns könnten Polizisten sein», schmunzelte Ruth Bär, und das nicht gerade im Flüsterton, worauf sich einer der Herren zu ihr umdrehte.

      «Sehr gute Einschätzung, ich bin tatsächlich Polizist. Wollen Sie sich nicht bei uns bewerben? Übrigens, darf ich mich vorstellen? Joseph Ritter von der Kantonspolizei Bern. Vier Kollegen aus vier verschiedenen Ländern begleiten mich. Und bevor Sie sich wundern, ob unsere Kommissariate im Geld schwimmen: Wir waren an einem Kongress in Stockholm, leisten uns die Überfahrt nach Hamburg auf eigene Kosten. Wir wollen dieses Wunderschiff einmal im Leben selber besteigen.»

      Ritter wurde in diesem Augenblick von einer Sicherheitsbeamtin aufgefordert, seinen Rucksack auf das Förderband zu legen, sodass er nicht mehr sehen konnte, wie Ruth Bär errötete, zur Gaudi ihrer Begleiterinnen. Die Reederei, im Wissen um das Zusteigen der fünf Herren, hatte das Gepäck der Polizisten am frühen Morgen in ihrem Stockholmer Hotel abholen und die Bordpässe mit Angabe der Kabinennummern hinterlegen lassen, damit die Beamten den Vormittag noch in der schwedischen Hauptstadt verbringen konnten. Nach den Kontrollen standen die Herren und Frauen kurz zusammen, stellten sich gegenseitig vor und lachten über das Gespür von Ruth Bär.

      «Herr Ritter, wissen Sie bereits, wo Sie heute zum Abendessen sitzen werden? Erste oder zweite Sitzung?», erkundigte sich Fiona Decorvet.

      «Wir haben eine Tischnummer für die erste Sitzung um 19 Uhr erhalten. Weshalb fragen Sie, Frau Decorvet?»

      «Wäre das nicht eine gute Idee, wenn wir den Chef de Service fragen, ob er uns für heute Abend einen Zehnertisch zuweisen könnte?»

      «Ja! Guter Einfall, ich liebe nämlich Kriminalromane! Mich würde interessieren, ob der Alltag von Ermittlern wirklich so spannend ist!», platzte Ruth Gnädinger ins Gespräch.

      «Kollegen, was meint ihr dazu?», erkundigte sich Ritter in Englisch, nachdem er seinen Begleitern die «Tatumstände» erklärt hatte.

      «Mais oui!» und «Assolutamente!» waren ebenso zu hören wie zweimal «Gerne, doch!», weil die Schweizerinnen sympathische Erscheinungen zu sein schienen.

      «Meine Herren, ich kümmere mich darum. Geben Sie mir Ihre Kabinennummern, ich lasse Ihnen eine Message zukommen», sagte Fiona Decorvet, worauf man sich verabschiedete, die Herren in Richtung eines unteren Decks, wo es auch einige wenige Innenkabinen gab, die besser zu ihren Budgets passten. Aber für eine einzige Nacht spielte das überhaupt keine Rolle, denn man(n) gedachte ohnehin nicht, bereits um 22 Uhr ins Bett zu gehen. Ritter teilte sich die Kabine mit Holger Herrlich, die übrigen Herren arrangierten sich zu dritt in einer Kabine.

      Während des Nachmittags traf man die eine oder den anderen auf dem obersten Deck, nicht zuletzt, um die grossartige Landschaft zu geniessen. Entlang dieser Gegend befand man sich in schwedischen Gewässern, am späteren Nachmittag in internationalen. Um die internationalen Seefahrtvorschriften zu erfüllen, mussten die fünf Polizisten ebenfalls die vorgeschriebene Rettungsübung bestreiten, unter allerdings eher ungewöhnlichen Bedingungen, nämlich auf der Brücke und unter Leitung von Capitano Enrico Tosso, der über die Anwesenheit der Kriminalisten informiert worden war.

      «Meine Herren, es ist uns allen auf der Alberta Imperator eine Freude und Ehre, Sie an Bord zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich hoffe, Ihre Dienste allerdings nicht in Anspruch nehmen zu müssen», lachte er.

      «Wie weit ist es eigentlich bis nach Hamburg?», gab sich François Hommard interessiert.

      «Von Sankt Petersburg nach Stockholm waren es 363 nautische Seemeilen, von Stockholm nach Hamburg sind es 436, das sind etwas mehr als 830 Kilometer. Wenn alles nach Plan läuft, treffen wir morgen Sonntag um 12 Uhr in der Hansestadt ein. Haben Sie dort noch Pläne?»

      «Das», sagte Holger Herrlich, dessen Initialen mit dem Autokennzeichen für die Hansestadt Hamburg übereinstimmten, «kommt auf die Weiterflüge an. Ich selber werde am Nachmittag auf der Davidwache vorbeischauen, habe aber erst übermorgen, am 10. August, wieder Dienst.»

      «Die Davidwache auf Sankt Pauli, die vermutlich bekannteste in ganz Europa …»

      «Ja, Capitano, wir können uns über Arbeit nicht beklagen, vor allem am Wochenende nicht, da brennt der Baum.»

      «Brennt der Baum?», hakte Tosso nach.

      «Eine Redensart, Capitano, das heisst, dass wir dann sehr viel zu tun haben, vor allem mit Touristen, die in Bars angeblich zu viel bezahlen mussten, auf der Grossen Freiheit, oder von Bordsteinschwalben gerupft wurden.» Der Capitano unterliess daraufhin eine weitere Frage nach der Bedeutung des letzten Ausdrucks. Es folgten einige Minuten, in denen vor allem über die Seefahrt gesprochen wurde, auch darüber, dass die Reederei Alberta mit ihren neun Schiffen auf allen Weltmeeren zusammen mit der MSC praktisch die einzige bedeutende Reederei in Privatbesitz war und nicht zu Riesen wie die Carnival Corp. gehörte, unter deren Flagge nicht bloss die eigene Flotte fuhr, sondern unter anderen auch die Schiffe von Aida, Costa, Cunard, Holland-America oder Princess. Enrico Tosso ging dabei auch auf technische Fragen ein. Eine halbe Stunde später verabschiedete man sich, die Polizisten verbrachten danach eine Stunde bei der offenen Portofino-Bar auf dem Promenadendeck, die angesichts des schönen und warmen Wetters gut besucht war.

      Um 19 Uhr traf man sich im Speisesaal Roma, wo der Chef de Service den gewünschten Zehnertisch reserviert hatte, unmittelbar neben einer riesigen Fensterfront. Es schien, als würden sich die Polizisten und die kulturinteressierten Damen auf das Wiedersehen freuen, entsprechend wurden die Stühle des Tisches jeweils mit dem anderen Geschlecht zur Rechten und zur Linken besetzt. Die Damen wussten vor allem über das Gesehene in Sankt Petersburg zu berichten, samt Fotos auf ihren Handys, die Herren berichteten über ihren Alltag, was die Schweizerinnen offensichtlich zu beeindrucken vermochte. Wie aus dem Nichts heraus erklärte Fiona Decorvet plötzlich, sie müsse dringend auf die Toilette, und zwar auf eine Art und Weise, die vor allem Joseph Ritter irritierte, der aber möglicherweise gar nicht vorhandene Gespenster sah.

      Als Fiona Decorvet an den Tisch zurückkehrte, schien sie irgendwie zerstreut, aber nichts deutete auf Ungewöhnliches hin, «alles bestens», versicherte sie, als