Rüeggisberg. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182825
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da etwas ergibt.»

      «Herr König! Ich muss aufs Heftigste gegen diese Andeutung protestieren! Frau Decorvet auch nur gedanklich in die Nähe einer illegalen Kunstszene zu bringen, das ist ungeheuerlich!», ärgerte sich Ruth Bär.

      «Frau Bär, ich möchte nicht missverstanden werden …»

      «Diese Äusserung kann man gar nicht missverstehen, Herr König.»

      «Wissen Sie, vor allem in Zürich, da …»

      «Nein, Herr König, das brauche ich mir nicht weiter anzuhören, ich ziehe mich zurück!», worauf Ruth Bär sich nach dem Abgang von Luigi Bevilaqua ebenfalls verabschiedete.

      Die folgenden Augenblicke hätte man durchaus als gereizt bezeichnen können. Es war François Hommard, der die Spannung abzubauen begann, indem er die Worte seines österreichischen Kollegen aus Innsbruck in einen grösseren Kontext setzte und darauf hinwies, dass Österreich vor allem nach dem Krieg ein Tummelplatz für Raubkunst und Kunstschieberei war, worauf Adalbert König mit einem Kopfnicken die Äusserungen des Franzosen bestätigte und Worte fand, die wirklich zur Beruhigung beitrugen, auch bei Prisca Antoniazzi.

      «Wissen Sie, Herr König», erklärte sie, «Ruth Bär hat zu Beginn der Karriere von Fiona Decorvet ganz schön viel Geld in die Hand genommen, um ihr diesen Start zu ermöglichen, deshalb ihre Überreaktion, sie wird sich schnell wieder beruhigen, sie ist eine Impulsive, wir kennen sie nicht anders, nicht wahr, meine Damen?», die mit Kopfnicken und Schmunzeln dieses Intermezzo abschlossen.

      Ritter hatte seinerseits erfahren, dass Ruth Bär ihrer Freundin nur beim Aufbau ihrer Galerie in Bern geholfen hatte, die Zürcher Niederlassung vermochte Fiona Decorvet finanziell selber zu stemmen. Weil er wusste, dass Claudia Lüthi daran war, die Handydaten und weitere Angaben zur Vermissten zu ermitteln, benutzte er die Gelegenheit, den drei Damen einige Fragen zur Zürcher Galerie zu stellen. Just als er damit beginnen wollte, gesellte sich Ruth Bär mit ein paar entschuldigenden Worten wieder an den Tisch.

      Avantgarde Zürich eröffnete 2009 an der Bahnhofstrasse in Zürich, unweit vom Paradeplatz. Fiona Decorvet führte die Galerie die ersten paar Monate selber, um den «Berner Geist» in die Limmatstadt zu transplantieren, wie sie sich jeweils ausdrückte. Es war dies eine Selbstsicherheit sondergleichen, denn üblicherweise stellen sich Berner von selber in den Zürcher Schatten, ohne dass sie dafür einen besonderen Grund haben. Eine Art angeborener Masochismus. Besondere Freude hatten die Mutzen, wie sie wegen des Wappentiers primär im Sport genannt wurden, wenn die Zürcher Grund zur Klage hatten, vor allem in wirtschaftlicher Sicht, aber auch der Abstieg der Zürcher Grashoppers aus der höchsten Spielklasse im helvetischen Fussball wurde mit einer Art Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Da war die Schadenfreude bei den vielen städtischen, kantonalen und eidgenössischen Beamten im Kanton Bern jeweils grenzenlos. Das galt im Übrigen nicht bloss für die Berner, die mit Beppi bezeichneten Einwohner Basels standen mit Grinsen in Richtung Zürich ebenfalls nie zurück.

      «Frau Bär, wie und wann fand die Ablösung von Frau Decorvet als Geschäftsleiterin in Zürich statt?»

      «Fiona wusste, dass sie auf die Dauer die beiden Galerien nicht selber führen konnte. Sie erzählte mir in den ersten Monaten 2010 – an den genauen Zeitpunkt erinnere ich mich nicht mehr –, dass sie eine interessante junge Frau kennengelernt hatte, 34-jährig, eine Ukrainerin ursprünglich aus Prypjat, die ihren Master in Kunstgeschichte an der Universität Zürich abgelegt und seither auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunst gearbeitet hatte.»

      «Prypjat», meldete sich HH zu Wort, «das ist doch jene Stadt in der Nähe von Tschernobyl, die nach der Explosion und dem GAU des Atomkraftwerks restlos evakuiert werden musste, ich konnte sie letztes Jahr selber besichtigen. Horror.»

      «Herr Herrlich, was ist damals eigentlich passiert? 1986, wenn ich mich nicht irre?»

      «Sie irren sich nicht. Und sofern es unsere Aufgabe in Bezug auf Frau Decorvet nicht tangiert, bin ich gerne bereit, Ihnen einige Informationen zu diesem beispiellosen Super-GAU zu machen, wobei diese natürlich in keinem Zusammenhang mit Frau Rudenko stehen, die damals – ich rechne schnell … – erst knapp zehn Jahre alt war, als es passierte.» Niemand hatte etwas gegen diese Ausführungen.

       Tschernobyl, 26. April 1986

      Bevor er auf die Ereignisse rund um den GAU in der Ukraine zu sprechen kam, räumte Herrlich gleich mit einer Verwechslung auf. Dass man von Tschernobyl spreche, hänge mit der Geschichte zusammen, korrekt wäre es nämlich, in Zusammenhang mit der atomaren Katastrophe Prypjat zu erwähnen. In der Tat: Als man in den sechziger Jahren mit dem Bau der Atomanlage ungefähr 120 Kilometer von Kiew entfernt begann, gab es in der Nähe nur das kleine Städtchen Tschernobyl, das im späten zwölften Jahrhundert gegründet worden war, deshalb der Name, gleichbedeutend mit der atomaren Katastrophe. Parallel zu den Atomkraftwerken auf der grünen Wiese begann man nämlich mit dem Bau der Retortenstadt Prypjat, nur knapp drei Kilometer von den AKW entfernt. Die Stadt sollte später Platz für über 50‘000 Menschen bieten, die Energieanlage insgesamt zwölf Reaktoren aufweisen. Damit wäre die Gesamtanlage Чернобыльская АЭС им. В.И. Ленина, die Tschernobyler Lenin-Kraftwerke, die grösste ihrer Art weltweit gewesen. Es ist denn auch Prypjat, das sich seither als Geisterstadt präsentiert, ohne Lebewesen.

      «Wie müssen wir uns dieses Prypjat denn vorstellen, Herr Herrlich?», wunderte sich Prisca Antoniazzi, worauf der 56-Jährige kurz überlegen musste. Er fand aber einen für alle Frauen nachvollziehbaren Vergleich.

      «Frau Antoniazzi, ich war schon in Bern, dreimal, genauer gesagt, unter anderem bei Kollega Ritter, und liebe die Toblerone. Die Fabrik hinter ihrer silbernen Hülle habe ich leider nur von aussen sehen können, aber die 400-Gramm-Version der dreieckigen Schokolade im Einkaufscenter Westside nebenan gekauft. Stellen Sie sich nun die vielen Hochhäuser im Westen von Bern vor und multiplizieren diese mit zehn. Samt Läden zum Einkaufen, Stadtverwaltung, Kinos, Fussballstadion, Vergnügungspark, Spital, Polizei- und Feuerwehrkasernen, Kongresshotel, um nur einige Beispiele zu nennen.»

      «Und diese Häuser stehen jetzt alle leer?», stellte Luzia Cadei eine Anschlussfrage.

      «Nicht nur die Häuser, Frau Cadei, es handelt sich um eine totale Geisterstadt, ohne jegliches Leben. Nicht einmal Hunde oder Katzen gibt es.» «Und weshalb das?»

      «Die Haustiere wurden damals alle getötet, weil sie in ihrem Fell möglicherweise kontaminiert wurden. Es gibt heute einzig wilde Tiere – Füchse, Rehe, Hirsche –, die in der Umgebung zu sehen sind.»

      Schweigen in der Runde. Nach einigen Sekunden meldete sich HH wieder zu Wort.

      Für die Nacht des Freitags, 25. auf den 26. April 1986, war lediglich eine Sicherheitsübung geplant, in deren Verlauf ein vollständiger Stromausfall in Reaktorblock 4 simuliert werden sollte. Eigentlicher Grund dafür: ein längst vorgesehenes Herunterfahren der Anlage im Hinblick auf Routineunterhaltsarbeiten. Im Rahmen des Experiments sollte gezeigt werden, dass selbst nach einer Reaktorabschaltung aufgrund von Stromausfall die noch vorhandene Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen ausreicht, um die Zeit bis zum vollen Anlaufen der Notstromaggregate zu überbrücken. Was aber passierte, erinnert zwingend an den bekannten Zauberlehrling mit seinen Besen.

      Den entscheidenden Konstruktionsfehler der Anlage konnten die Ingenieure im Verlaufe des Abends nicht kennen: Dass die gelieferten Angaben bei geringer Leistung extrem unzuverlässig waren, sodass plötzlich von überall her Alarmsignale aufheulten, was zu einem Chaos im Kontrollraum mit einer Kettenreaktion von menschlichen Fehlmanipulationen führte. Von diesem Moment an war die bevorstehende Katastrophe nicht mehr aufzuhalten, der Reaktor RBNK-1000 nicht mehr zu beherrschen. Es floss – aufgrund der Fehlüberlegungen – viel zu wenig Wasser in das System, der Druck im Kern stieg unaufhaltsam an, was die Ingenieure veranlasste, die sofortige Notabschaltung des Reaktors einzuleiten.

      Eine Notabschaltung führt in der Regel dazu, dass sämtliche Kontrollstäbe gleichzeitig in den Reaktorkern eingefahren werden. Da die Steuerstäbe im Reaktorblock 4 aus Grafit bestanden, wurde die Kettenreaktion statt gebremst sogar noch gefördert, der Leistungsanstieg