Rüeggisberg. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182825
Скачать книгу
sie nicht mitnehmen oder kopieren, dazu benötige ich die Zustimmung der Reederei, was nicht umgehend der Fall sein wird. Die Leute benötigen ihrerseits Zeit für juristische Abklärungen.»

      «Das ist überhaupt kein Problem, Capitano, danke.»

      Joseph Ritter wandte sich an die Anwesenden, derweil Enrico Tosso sich vorübergehend verabschiedete, im Wissen, dass er die Verantwortliche für die Administration wecken musste, um an das ausgedruckte Dokument heranzukommen. In den nächsten Minuten überlegte Ritter laut, wie das weitere Vorgehen bis zum Ausschiffen in Hamburg aussehen würde, immer wieder mit der Zustimmung seiner Kollegen: Die vier Frauen hatten die Aufgabe, die Passagierliste spontan zu begutachten. Unter Umständen würden sie auf Namen stossen, die in einem möglichen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Fiona Decorvet stehen könnten. Vor allem galt es, sich die Namen der Schweizer Passagiere zu notieren. Luigi Bevilaqua erklärte sich bereit, zusammen mit dem Capitano in Genua Druck zu machen, damit die Berner Ermittler möglichst rasch offiziell und juristisch abgesichert an die Liste herankommen konnten, um sie in den nächsten Tagen im Detail durchzupflügen. Von wem hatte Fiona Decorvet eine Nachricht erhalten, die derart wichtig schien, dass sie mitten in der Vorstellung das Theater verliess? Wohin ging sie? Traf sie jemanden? Vor allem aber: Wo befand sie sich jetzt, was hatte es mit der Handtasche auf Deck 5 auf sich? Hatte sie schon während des Nachtessens eine SMS erhalten, die sie aufstehen liess? Ratlosigkeit herrschte. Die nächsten Minuten gehörten den Kriminalisten, die Damen begnügten sich mit der Rolle der Zuhörerinnen.

      In der Nähe dieses Rettungsbootes auf der Alberta Imperator auf Deck 5 wurde die Handtasche von Fiona Decorvet gefunden.

      «Kollegen, wie gehen wir bei den Ermittlungen vor? Wer von uns macht was?»

      «J. R., es geht hier um eine Schweizer Bürgerin, also bist du schon einmal involviert.»

      «Ja, Holger, aber demnächst treffen wir in Deutschland ein, dort bist du – im wahrsten Sinne des Wortes – Hausherr, abgekürzt HH», witzelte Ritter. «Nicht vergessen, cari amici sportivi, la nostra nave ist italienisches Hoheitsgebiet», warf Bevilaqua ein.

      «J. R., müssen wir Interpol zuschalten?», bedachte König.

      «Nein, Adalbert, das müssen wir nicht. Denn: Es liegt kein Verbrechen vor, es wird lediglich jemand vermisst. Die Spürhunde stellen wir zur Verfügung, sofern der Capitano und Luigi damit einverstanden sind.»

      «Claro. Verzwickt wird unser Fall erst, sollten wir Signora Decorvet leblos an Bord finden, was wir alle natürlich nicht hoffen.»

      In diesem Moment kehrte Enrico Tosso zur Gruppe zurück, die jetzt noch allein in der Venezia Bar sass. Dies war kein Zufall, denn der Kapitän hatte auf dem Weg zur Administration den Barkeeper gebeten, die anderen wenigen Gäste zu motivieren, für einen Gratisdrink in einen anderen Salon zu wechseln. Tosso überliess vorerst Ritter die Passagierliste, mit der Bitte, diese nicht aus der Venezia Bar zu tragen und dafür später seinem Zweiten Offizier Carlo Colombi auszuhändigen, der Nachtdienst hatte. Er verabschiedete sich danach bei den Polizisten und den Kulturtouristinnen mit der Feststellung, dass er um 6 Uhr wieder auf der Brücke zur Verfügung stünde.

      Mitternacht war seit 90 Minuten vorbei, als Luzia Cadei, Prisca Antoniazzi, Ruth Bär und Ruth Gnädinger die Passagierliste Joseph Ritter wieder überreichten.

      «Herr Ritter», Ruth Gnädinger amtete als Gruppensprecherin, «es sind total nur 22 Schweizer an Bord, minus uns fünf Damen, also nur 17 andere. Mit Ausnahme eines Namens können wir nichts anfangen, haben sie aber notiert, mit Adressen. Sie wohnen in Münsingen?», worauf der Schweizer schmunzeln musste.

      «Minus mich selber, macht noch 16. Ja, ich bin in Münsingen zu Hause. Sagen Ihnen die Namen anderer Passagiere per Zufall etwas, Frau Gnädinger?»

      «Überhaupt nicht, vielleicht mit Ausnahme eines Mark Spitz.»

      «X-facher Olympiasieger im Schwimmen», ergänzte Prisca Antoniazzi.

      «Siebenfach, 1972 in München», stellte Ritter weiter fest, «aber ich denke kaum, dass wir ihn befragen müssen, zumal er Amerikaner ist. Dennoch eine Frage: Sie sagten mit Ausnahme eines Namens, wen haben Sie damit gemeint, etwa Roland Jeanneret?»

      «Herr Ritter, können Sie Gedanken lesen oder sind Sie eventuell sogar bei der NSA?», scherzte Ruth Gnädinger.

      «Nein, keine Angst, Frau Gnädinger», gab sich Ritter ernsthaft, «aber mir war, ich hätte ihn und seine Frau Suzanne vorhin von Weitem gesehen. Wir kennen uns nicht, aber das ehemalige Aushängeschild der Glückskette ist noch heute schweizweit bekannt. 16 minus 2. Es gibt demnach 14 Schweizer, auf die wir eventuell zurückkommen müssen. Jeanneret wird kaum etwas mit Frau Decorvet zu tun gehabt haben, sonst hätten sie sich zweifelsohne begrüsst. Das wäre Ihnen bestimmt aufgefallen, nicht wahr?»

      «Ja, das ist so, Fiona hätte uns Herrn Jeanneret bestimmt vorgestellt.»

      Entgegen der Anweisung an alle anderen in Hamburg aussteigenden Passagiere, ihre Koffer mit zur Verfügung gestellten verschiedenfarbigen Etiketten bis 1 Uhr vor ihre Kabinen für den Abtransport und reibungslosen Abschluss ihrer Reise zu stellen, konnten die neun Anwesenden damit bis 7 Uhr zuwarten. Das hatte ihnen Carlo Colombi mitgeteilt. Gegen 1.45 Uhr verabschiedete man sich, Ritter mit der Bitte an die Damen, ihn um 7 Uhr im Speisesaal Roma zu treffen, weil er doch einige Fragen zur Verschwundenen hatte.

       Fiona Decorvet (Sonntag, 9. August)

      Als Capitano Tosso auf der Brücke eintraf, war business as usual angesagt, ohne weitere Vorkommnisse während der Nacht war das Anlegen in Hamburg erst in sechs Stunden vorgesehen. Mit anderen Worten: Fiona Decorvet galt noch immer als vermisst, ein zusätzliches Visionieren der Videobänder durch die Security hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Der Schatten auf Deck 5 konnte in keinen Zusammenhang mit ihrem Verschwinden gebracht werden, die Suche nach ihrem Handy blieb ergebnislos. Tosso unterliess es deshalb, sich bei Bevilaqua oder bei Ritter zu melden, Letzterer traf sich wie abgemacht eine Stunde später mit den Frauen.

      «Danke, meine Damen, dass Sie sich eingefunden haben. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich unser Gespräch gerne elektronisch aufzeichnen, damit ich mit meinem Team in Bern bei den weiteren Ermittlungen nicht bei null beginnen muss.»

      «Glauben Sie an ein Verbrechen, Herr Ritter?», gab sich Ruth Bär besorgt.

      «Frau Bär, wir Kriminalisten stützen uns eher auf Fakten denn auf Vermutungen. Aber ich will ja nicht spitzfindig werden. Worauf ich mir keinen Reim machen kann: Was hat es mit der Handtasche auf sich?»

      «Das beschäftigt auch mich, Herr Ritter, ich meine, wenn Fiona bewusst über Bord gegangen wäre, hätte sie doch die Tasche samt Inhalt mitgenommen – oder an Bord gelassen», mutmasste Prisca Antoniazzi.

      «Da stimme ich Ihnen zu, Frau Antoniazzi. Was ich deshalb sofort wissen muss: Wie lautet die Handynummer von Frau Decorvet?»

      «Hier haben Sie sie.» Ritter nahm den Zettel von Ruth Bär entgegen.

      «Ich werde meine Mitarbeiterin jetzt sofort bitten, die Verbindungen von Frau Decorvet via Anbieter zu überprüfen, vor allem jene Kontaktnahme kurz nach neun Uhr, gestern Abend – und wo das Handy des Anrufers eingeloggt war. Sie entschuldigen mich bitte kurz.»

      Joseph Ritter rief Claudia Lüthi mit entschuldigenden Worten an, im Wissen, dass Elias Brunner mit Regula Wälchli und Sohn Noah heute Sonntag abwesend waren. Stephan Moser war seinerseits ohnehin mit einer alten, aber noch nicht gänzlich aufgeklärten Geschichte beschäftigt. Claudia Lüthi notierte sich alle wichtigen Angaben zum Fall und versprach, so schnell als möglich zurückzurufen. Und der Chef solle sich keine Gedanken wegen des Anrufs am Sonntag machen, immerhin hätte sie «jetzt etwas zu tun», wie sie lachend feststellte. Ritter nahm ihr das nicht ab, sagte es ihr auch.

      «Wann kommst du zurück, J. R.?», wechselte Claudia Lüthi das Thema.

      «Das weiss ich noch