Aber immer wieder verdrängte ich diese trüben Gedanken. Erst, als ich mit meiner Brigade „Stromschnelle“ im Schulterschluss um den Leipziger Ring marschierte, später dann im Wirtshaus zum „Roten Oktober“ in Wolfen Nord, wenn ich gemeinsam mit den anderen Arbeitslosen Zukunftspläne schmiedete.
Und dann war da plötzlich auch noch etwas Unvorhersehbares. In der „Hauptstadt der sozialistischen Weltbewegung“, also in Moskau, ging ein neuer, leuchtender roter Stern auf. Ein Messias, so schien es, der einen Sozialismus wollte mit freundlich lächelndem Gesicht. Selbstbestimmung der Völker auch und noch andere schöne Dinge. Ohne Alkohol zwar, aber vielleicht blieb das eine „nationale Besonderheit“? Wir hofften es. Zumindest glaubte das DDR-Volk, ich auch, mit ihm, dem Messias, werde Licht am Tunnelausgang erscheinen. Das wollten alle glauben, als sie „Gorbi, Gorbi“ schrien. Wie leichtgläubig sind die Völker eigentlich? Ähnlich geschrien haben bereits 2000 Jahre zuvor andere. „Hosianna“ schrien sie, nur um ihn, ihren Messias, kurze Zeit später ans Kreuz zu nageln.
Die bitteren Realitäten im Riesenland Sowjetunion nahm zunächst kaum jemand zur Kenntnis. Dass Gorbatschow lediglich, wenn auch zu spät, die realistischen Konsequenzen aus dem drohenden Zusammenbruch des eigenen Systems zog, wollte niemand sehen. Eine DDR am Tropf konnte schnell zum Mühlstein am Hals der Sowjetunion werden. Das war die Realität. Selbst sein Riesenreich konnte sich das nicht mehr leisten. Ihm selbst, dem Messias, stand das Wasser schon bis zur Halskrause. Weg mit dem Ballast, solange es noch etwas dafür gab. Nicht nur die DDR, auch Kuba, das täglich Millionen verschlang. Auch dort ging es nicht weiter, nur stundenlange Monologe des Revolutionsführers. Und dann das „sozialistische Weltsystem“, ein Verein, der immer mehr kostete als er einbrachte. Dafür schielten die Satellitenchefs ständig nach Westen, um sich auf Kosten der Brudervölker kleine Vorteile zu ergattern. Und dann waren da noch die Unruhen im eigenen Land. Und der verhängnisvolle Krieg in Afghanistan (Sowjetischer Truppenabzug 1989). Er musste amputieren, der relativ junge Genosse Generalsekretär, eins nach dem anderen, nur schnell, wenn er den Körper erhalten wollte.
„Der Starke ist am mächtigsten allein“, schrieb Schiller im Tell, glaube ich. Den musste er gelesen haben, der glücklose Messias in Moskau. Doch es nützte ihm nichts mehr. Er kam zu spät und so bestrafte ihn das Leben mit dem eigenen politischen Ende. Nein, die ursprüngliche Absicht des Reformers war es wohl nicht, das sozialistische Weltsystem aufzulösen und sicher auch nicht, der Verkauf der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Nur, seine Reformen kamen zwei Jahrzehnte zu spät. Inzwischen war das Fundament so marode, dass nicht mehr reformiert oder umgestaltet, sondern nur noch aufgegeben werden konnte, bis hin zur Sowjetunion selbst. Was für eine schöne steile Vorlage, sagten sich unser guter Onkel Sam in Übersee und der deutsche Einheitskanzler natürlich auch.
Kaum wurden die Bande ein wenig gelockert, kam sie plötzlich mit Macht hoch, die empfundene Entmündigung durch die SED und ihre Subalternen. Das Volk der DDR wollte frei sein, wie seine Brüder und Schwestern vom Rhein es waren. Aber was verstanden wir unter „Freiheit“? Die D-Mark und Reisen, nicht nur nach Prag und Budapest, auch durch Europa weit westlich von Spree und Pleiße wollte es fahren, das Volk. Natürlich am Steuer von Westautos und mit harter Währung in der Tasche. Na ja, und 16 Jahre warten auf einen Wartburg wollte es auch nicht mehr. Unkontrollierte Reden wollte es hören und schreiben, was und wie jeder wollte. Zumindest der intellektuelle Teil des Volkes wollte das. Und der war groß, dank eines durchgehend funktionierenden Systems von Bildung und Ausbildung in der DDR. Aber viele, sehr viele wollten einfach nur lesen. Nicht, was geschah, sondern was geschehen sein könnte, nicht trocken und langweilig wie im ND, dem „Neuen Deutschland“, sondern volksnah, wie es zum Beispiel BILD so schön konnte. Ein wahres Kuriosum der Geschichte.
Führer brauchte es nicht, das deutsche Volk im Osten. Die hatte es lange genug gehabt in seiner Geschichte. Solche und andere! Nur betrogen wurde es immer. Jetzt endlich sollte damit Schluss sein. Wir hatten ja die Brüder und Schwestern da drüben und die würden es schon richten. Davon waren die meisten irgendwann überzeugt und so wurde aus der Losung „WIR SIND DAS VOLK“
bald „WIR SIND EIN VOLK“. Von wem sie stammte war egal, selbst wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte nachzulesen. Das ist natürlich Quatsch. Ich bitte um Entschuldigung. In der DDR konnte man es ja nicht nachlesen! Darum ging es aber nicht. Irgendwie entlarvender war dann schon eher die Losung: „KOMMT DIE D-MARK NICHT ZU UNS, GEHEN WIR ZU IHR!“ Das riefen sie, die Demonstranten, die einmal die Freiheit auf ihr Banner geschrieben hatten. Laut und fordernd, beim Marsch um den Leipziger Ring und anderswo. Das war ein wenig später. Da war auch ich dabei, trotz aller Bedenken in der Nacht. So ist das wohl. Wer im Malstrom schwimmt, schwimmt mit ihm. Ein rettendes Ufer gibt es für ihn nicht. Nein, ein Entschuldigungsversuch für mich ist das nicht! Nein! Nein! Nein! Nur die späte Erkenntnis, dass vor allem wir selbst es waren, die den Druck auf die noch Regierenden aufgebaut haben, nicht nur die Anderen.
VII
Ich lief weiter mit um den Leipziger Ring, schrie auch, aber nicht mehr mit Inbrunst, denn ich wusste nicht mehr, wonach ich da schrie. Eine unbestimmte Angst vor der Zukunft schnürte mir immer mehr die Luft ab. Manchmal ging ich auch ohne zu demonstrieren allein durch die Stadt, um nachzudenken, sah die verfallenden, schmutzig-grauen Fassaden, die halbleeren Geschäfte und die teils verbissenen, teils fröhlichen Gesichter. Was richtig war und was falsch, wusste ich nicht mehr. Meist ging ich nach der Demo noch in die „Bodega“. Das war eine kleine Bar in einer der Leipziger Passagen. Heute würde man sagen eine Szenekneipe. Dort konnte man ein seltsames Schauspiel beobachten, wie es vielleicht nur in Deutschland, egal ob Ost oder West, möglich war. Links standen die noch erregten Demonstranten, rechts die müde und unsicher wirkenden Polizisten. Hier standen sie friedlich, wenn auch nicht gerade vereint, an der gleichen Theke. Sah ich das, glaubte ich immer weniger, dass das alles für mich etwas bringen würde. Den Begriff „Friedliche Revolution“ gab es ja noch nicht. Der wurde erst nachträglich erfunden. Und komisch, immer wieder beruhigte ich meine Bedenken. Weil ich sie beruhigen wollte.
Das Grundgesetz für den Ausbruch einer Revolution hatten wir im Osten ja alle gelernt. Widerwillig, zugegeben, weil es mit Penetranz ständig wiedergekäut wurde. Aber einiges davon war doch bei fast jedem hängengeblieben. Heute weiß ich nicht mehr, wer es aufgeschrieben hatte, das revolutionäre Grundgesetz. Marx vielleicht oder Lenin oder gar Mao, die rote Sonne? Egal, jedenfalls einer von ihnen muss es gewesen sein! Dort hieß es, die Revolution bricht aus, wenn die da unten nicht mehr so leben wollen (das traf ja erst einmal zu) und die da oben die Herrschaft zu ihren Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten können (auch das war so). Trotzdem fehlte etwas. Wo wollten wir hin? Was, wenn sie verflogen sein wird, die Euphorie des spontanen Aufbruchs, und die langen Mühen der Ebenen begannen? Ja, ja, „die Gedanken sind frei“!
Eine Führungsmannschaft muss sein, im kommunistischen Vokabular „Vorhut“ genannt. Das ist die, die dem Volk sagt, wo es langgeht, und es nicht losstürmen lässt wie eine durch Wolfsgeheul aufgescheuchte Schafherde. Ja, auch das ist wohl von Marx, dem übergroßen Revolutionstheoretiker. Aber ist es deshalb schon falsch? Lehrbeispiele für kopflose Revolutionen gab es doch genug, nicht nur in Deutschland. Die erste hier bei uns fand sogar auf DDR-Gebiet statt. Vor genau 464 Jahren, von 1989 an gerechnet. Am 15. Mai 1525 waren die schlecht geführten Bauernhaufen von einem gut organisierten aber kleinen Ritterheer bei Bad Frankenhausen vernichtend geschlagen worden. Und das bei zehnfacher Überzahl der Bauernhaufen. Auch das hatten wir gelernt. Das leuchtete mir damals ein. Ich hatte ja auch gelesen, dass, ungefähr 300 weitere Jahre zuvor, ein kluger Chinese, der Name ist mit leider auch entfallen, mit anderen Worten das Gleiche gesagt hatte. Es war der Berater des bereits erwähnten Mongolenherrschers Dschinghis Khan. Der hatte ihm sinngemäß empfohlen: „Du kannst den Erdkreis im Sattel erobern, aber regieren kannst du ihn vom Sattel aus nicht.“
Eine Frage beschäftigt mich bis heute. Warum war sie eigentlich so untypisch friedlich, diese Revolution? Weil wir Zehntausende waren, die jeden Montag friedlich um den Ring marschierten? Vielleicht! Aber siehe 1525. Oder weil wir laut und deutlich riefen: „KEINE GEWALT“? Vielleicht auch deshalb! Nur, fragte ich mich, haben je zuvor in der Geschichte, in der deutschen oder der anderer Völker,