„Was für ein Tag der Schmach!“ (2. Könige 19,3). Zu Gorbatschows Ehre kann lediglich gesagt werden, dass nicht er es war, der ihn letztlich auslieferte.
X
Entgegen allen Erwartungen gab es so gut wie keinen Andrang vor dem Postamt in Hof. Dort hatte man für die herüberströmenden Ostdeutschen eine Ausgabestelle für Begrüßungsgeld eingerichtet. Für Hof hatten wir uns auf Drängen Waldemar Henrys und Ilonas entschieden. In Bayern würden nicht 100, wie sonst in den Bundesländern üblich, sondern sogar 150 D-Mark ausgezahlt. Jana und ich hatten zwar noch die halbe Nacht darüber diskutiert, was für ein fieser Trick der Coup mit dem Begrüßungsgeld letztendlich war, unabhängig davon blieb es dabei. Auch ich würde es mir abholen. Ich hatte ja schon beim Frühstück klein beigegeben, wie meistens in letzter Zeit.
Unseren klapprigen Wartburg hatten wir ein Stück vom Postamt entfernt in einer gerade frei gewordenen Parklücke abgestellt und gingen langsam und schweigend in Richtung Auszahlstelle. Vor uns hielt plötzlich ein Trabant mit einem Berliner Kennzeichen. Ein noch relativ junges Paar stieg aus und zerrte zwei Kleinstkinder aus dem Auto. Das jüngste war vielleicht sechs bis acht Wochen alt, das ältere musste so knapp zwei Jahre sein. Die Frau nahm die schlafende Kleine auf den Arm und hielt das quengelnde Größere an der Hand fest. Ihr Mann klappte auf der Beifahrerseite den Sitz zurück, beugte sich noch einmal ins Auto und versuchte eine alte Dame herauszuziehen. „Bitte, Oma, steige jetzt endlich aus“, sagte er erzwungen höflich. „Wir sind doch nun im Westen, wo du unbedingt hinwolltest.“ Was sie antwortete, konnte ich nicht verstehen, denn sie sprach sehr leise. Er zerrte an ihr, doch es gelang ihm nicht, sie aus dem Auto zu hieven. Scheinbar war die alte Dame ziemlich schwer. Außerdem sträubte sie sich gegen das „Aussteigen-Sollen“. Schließlich wandte sich der junge Vater an uns und bat, ihm doch zu helfen, die Oma aus dem Auto zu bugsieren. „Erst wollte sie unbedingt mit in den Westen und nun behauptet sie, nicht aus dem Wagen steigen zu können. Es ist schon ein Kreuz mit den alten Leuten.“
Der junge Mann schaute abwechselnd und halb wütend, halb bittend zu Ilona und Jana. Wahrscheinlich wäre es ihm lieber gewesen, eine Frau hätte ihm geholfen. Unsere beiden Damen taten aber, als wären nicht sie gemeint. Waldemar Henry musste sich gerade jetzt unbedingt und mit großem Interesse die nichtssagenden Häuserfassaden von Hof ansehen und bemerkte den Hilfesuchenden dadurch nicht. Also blieb es wieder an mir hängen. Verflucht sei die Höflichkeit, zu der man mich erzogen hatte. Trotzdem fragte ich mich, warum die beiden Typen mit zwei quengelnden Kindern und einer Oma, die ganz offensichtlich schlecht zu Fuß war, von Berlin bis nach Bayern gekutscht waren, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Sie hätten doch einfach durch die jetzt offene Mauer nach Westberlin fahren können. Ja, so naiv war ich noch. Also nickte ich dem Berliner Typen zu, ging auf die Fahrerseite und öffnete die Tür. Sofort wusste ich, warum die alte Dame nicht aussteigen wollte. Es roch penetrant nach Schweiß und noch etwas nicht gleich Definierbarem. Dann sah ich es. Sie trug einen warmen Wollmantel und darunter etwas, das mehr einem Nachthemd als einem Kleid ähnelte. Sie war stark übergewichtig und schwitze vor Anstrengung, Angst oder einfach so. Der Mantel stand offen, ich konnte sehen, dass eins ihrer Beine gewickelt war und dann sah ich unter ihr die Pfütze und auch, dass Mantel und Sitz feucht waren. Daher der stechende Geruch von kaltem Schweiß und Urin. Der Kerl musste von Berlin bis Hof durchgefahren sein. Ich schob mich zurück und sagte: „Hör mal, lass die Oma hier sitzen. Es fällt ihr wirklich schwer auszusteigen.“ Die alte Dame sah mich erleichtert und dankbar an. Dass sie sich eingepinkelt hatte, würde er ja wohl selbst merken, dachte ich und sagte mit aller Verachtung, die ich in meine Stimme legen konnte: „Vielleicht kannst du die Lady in der Ausgabestelle auch so davon überzeugen, dass eure Oma für euch das Begrüßungsgeld in Empfang nehmen soll. Du kannst ja sagen, dass sie sich dafür schämt. So etwas gibt es wirklich.“ – „Meinst du?“, fragte er unsicher. „Sie wollte doch unbedingt noch einmal in den Westen. Was soll ich da machen?“ – „Ja, das meine ich“, antwortete ich schroff, drehte mich um und ließ ihn stehen.
„Warum sind Sie denn mit der ganzen Bagage nicht durch die Mauer nach Westberlin, sondern bis hierher nach Bayern gefahren?“, fragte Jana, die jetzt langsam mitbekommen hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er wurde verlegen, zuckte mit den Schultern, antwortete dann aber doch halblaut: „Wir waren gerade hier in der Gegend!“ Da fiel mir ein, was mir Ilona und Waldemar Henry schon bei unserem Küchengespräch erzählt hatten und ich wusste, warum er von Berlin 400 Kilometer nach Westen gefahren war. Der holte sein Begrüßungsgeld zum zweiten Mal ab. Ich spuckte aus, denn mir wurde richtig schlecht.
Einige Minuten später erhielten wir vollkommen problemlos unser Begrüßungsgeld. Als wir wieder auf der Straße standen, sahen wir den Typen mit der „Lady“ vom Nebenschalter vor dem Trabant stehen und hörten, wie er ihr erklärte, dass die liebe Oma unbedingt noch einmal in den Westen gewollt habe, bevor sie die Äugelein (er hat wirklich Äugelein gesagt) für immer schließen würde. Dann drehte er sich zur Seite und schien vor innerer Rührung zu weinen. Und die mit dem Auszahlen von Begrüßungsgeld beauftragte Dame nickte gerührt und sagte: „Gut, so machen wir es.“ Wahrscheinlich war sie froh, dass die feucht gewordene Oma nicht doch noch in ihr Büro gehoben wurde. Die Scham stieg in mir hoch, ich nahm meine 150 D-Mark, zerknüllte die Scheine, warf sie auf die Straße und trat darauf. Jana nickte zustimmend, behielt aber ihre Scheine. Meine angehende Schwiegertochter allerdings hob sie auf, strich sie glatt und steckte sie ein. Ich sah sie verächtlich an. Sie wollte etwas erklären, unterließ es aber, als sie meinem Blick begegnete. Im Auto sprach niemand ein Wort, bis wir vor der Haustür standen.
XI
Bis hierhin, mein lieber Freund, verlief unser, das heißt dein und mein, Leben, abgesehen von einigen leichten, zeitbedingten Höhenunterschieden, sehr ähnlich. So, wie es uns der Saarländer vielleicht als Ziel einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ vorgegeben hatte. Alle in etwa gleich. Die nicht planbare Ausnahme war vielleicht, dass du und ich bereits über vier Jahrzehnte Freunde waren und unsere Frauen das nicht nur akzeptierten, sondern sich ebenfalls gut verstanden. Auch das soll ja nicht selbstverständlich sein. Beide hatten wir unser festes Wohnumfeld, langjährige Arbeitskollegen, eine im Großen und Ganzen intakte Familie, annähernd gleiche Neubauwohnungen, nur dass deine in Leipzig und meine in Wolfen Nord stand. Wir fuhren das gleiche Auto, jeder einen Wartburg. Deinen bekamst du nach 16 Jahren Anmeldungszeit und ich hätte, wenn Vater Waldemar nicht … na, du weißt schon, genauso lange warten müssen. Alles war annähernd gleich in unserer schönen DDR. Gehälter, Garderoben und sogar die Wohnungsausstattungen unterschieden sich nicht nennenswert. Ähnliche Schrankwände, Sitzmöbel und, dank deiner Hilfe, sogar vergleichbare Buchbestände und Schallplatten. Die Unterschiede bestanden nicht in der Kaufkraft, sondern in den Beziehungen. Siehe mein Vater Waldemar. Aber sonst? Dass du Chef eines Großbetriebes warst und ich der bescheidene Leiter der Elektrikerbrigade „Stromschnelle“, war äußerlich kaum zu bemerken.
Doch es änderte sich viel in den letzten Monaten. Die Gesellschaft krachte in allen Fugen und häufig zerbrachen auch über Jahre gewachsene menschliche Verbindungen und Freundschaften. Unsere hielt, obgleich ich fast jeden Montag in Leipzig um den Ring marschierte, wenn auch mit wachsenden Bedenken. Du dagegen versuchtest und schafftest schließlich auch den Spagat, die Unruhen aus deinem späteren Betrieb rauszuhalten, ihn am Markt neu zu etablieren und ihn zugleich vor den rigorosen Plattmachungsbestrebungen der Treuhand, die besonders nach der Ermordung Rohwedders am 1. April 1991 einsetzten, zu schützen. Du allein weißt, was dir das an Kraft gekostet hat. Aber schließlich hast du vielleicht nicht alles, aber viel richtig gemacht, während ich unter den neuen Bedingungen scheiterte. In Tritt kam ich nicht wieder, vielleicht auch, weil ich irgendwann nicht mehr wollte und konnte. Dabei ging es uns später nicht einmal schlecht. Alles andere wäre gelogen.
Vor uns stand das Weihnachtsfest 1989. Es sollte für meine Familie und mich für lange Zeit das letzte sorgenfrei und ohne Zukunftsangst gefeierte „Fest der Familie“ bleiben. An jenem Heiligen Abend ließ ich mich von Jana sogar überreden, in unserer heimatlichen Dorfkirche die Christmesse zu besuchen. Das hatten wir seit ein paar Jahren nicht mehr getan. Hinterher erschien mir dieser Schritt