Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
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hat dieses Grundrecht auf Arbeit in der DDR am meisten der Saarländer selbst. Zumindest hat er indirekt die Grundlagen für den massenhaften Missbrauch geschaffen. Das war, als er zu Beginn seiner Herrschaft populistische Reformen einführte, auf deren Grundlage der Disziplinverfall in den Betrieben zu wuchern begann. Dazu zähle ich das schrittweise Untergraben der Autorität der Leiter, die Stärkung des Einflusses gesellschaftlicher Organisationen in den Betrieben oder die Arbeitsplatzbindung von Kriminellen, Asozialen und Arbeitsscheuen. Womit kann die Arbeitsmoral eigentlich schneller untergraben werden als mit einer garantierten Straflosigkeit für chronische Faulpelze? Ich weiß es nicht. Andere, die es hätten wissen müssen und ändern können, taten nichts. So fuhr das Staatsschiff DDR in aller Gemütsruhe auf den Malstrom zu und was dort geschieht, kann man nachlesen. Am besten bei Edgar Allan Poe, dem amerikanischen Schriftsteller.

      Bevor ich zur Historie selbst zurückkehre, noch ein kurzer Rückblick in eigener Sache. Die Politiker an der Spitze unseres Staates kannte ich nicht. Nicht persönlich jedenfalls. Woher auch? Na schön, aus dem Fernsehen und der Zeitung, solange ich sie noch las. Doch eine Ausnahme gab es. Egon Krenz, den kannte ich. Kennen ist natürlich Quatsch. Wir waren einmal zusammengetroffen. Falls ich mich recht erinnere, haben wir sogar ein oder zwei Gläschen „Irgendwas“ getrunken. Natürlich nicht wir beide allein. Wir waren viele, darunter ich und meine Brigade „Stromschnelle“. Ein paar Worte gewechselt haben wir aber und viel gelacht, denn der Anlass war ein erfreulicher. Das reicht natürlich nicht für ein Urteil, aber immerhin hatte ich einmal mit ihm zu tun, mit Helmut Kohl nicht.

      Die Begegnung fand gar nicht so lange vor der Wende im Jahre 1982 statt. Zu tun hat sie deshalb auch nichts mit ihr. Ein knappes Jahrzehnt ist das jetzt her, aber auch das ist fast schon unwichtig. Jedenfalls war der Name Krenz noch unbeschädigt durch seinen späteren Scheißjob als Wahlleiter. Auch sein Chinabesuch mit den Vorgängen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die er positiv kommentiert haben sollte, wie behauptet wird, lag noch in weiter Ferne.

      Unsere Begegnung fand in Oberwiesenthal, im Erzgebirge statt. Die DDR hatte, warum auch immer, dort ein Jugendhotel zu bauen in Auftrag gegeben. So etwas wie eine Nobel-Jugendherberge. Man könnte auch sagen ein Sargnagel für die schon marode DDR, den der Saarländer, unbekümmert und populistisch, da und dort und eben auch hier einschlug. Kein Vergleich mit den Absteigen, die wir in der Schulzeit auf Wandertagen im Harz oder in Thüringen kennengelernt hatten. Du erinnerst dich, mein Freund, an unsere gemeinsame Rennsteigwanderung 1958 von Saalfeld nach Eisenach? Herrliche Zeit! Aber die Jugendherbergen! Egal, wir kannten ja nichts anderes! Die Hütte, die damals gerade in Oberwiesenthal errichtet wurde, war wirklich repräsentativ. Schöne Zimmer ausgerüstet mit Duschen, manche mit Bädern und einige hatten sogar kleine Kühlschränke. Minibars, lernte ich später. Unmengen an Personal im Haus und ganze sieben DDR-Mark je Übernachtung. Wohl dem Staat, der sich das leisten kann.

      Doch darum geht es hier nicht. Es gab Räume zum Lesen, zum Diskutieren und anderes mehr. Sogar kegeln konnte man. Und es gab auch eine tolle Bar. Ob sie das wirklich war oder nur in meiner vielleicht noch unterentwickelten Vorstellungen davon, wie eine tolle Bar aussehen müsse, sei einmal dahin gestellt. Kurz, sie war schön. Und in dieser Bar lernte ich Egon Krenz kennen. Das kam so:

      Wie in der DDR bei Repräsentationsbauten üblich, stand auch für das Jugendhotel Oberwiesenthal als erstes der Eröffnungstermin fest. Zunächst lief wohl auch alles nach Plan, dann kam das Übliche. Material wurde nicht pünktlich geliefert, Teile fehlten, Häusle- und Garagenbauer brauchten auch dieses und jenes und so weiter und so fort. Dadurch geriet die Netzwerkplanung durcheinander. Einiges musste auch umprojektiert werden, hieß es, jedenfalls schafften es die dafür geplanten Arbeitskräfte nicht mehr. Das waren wohl die wesentlichen Gründe dafür, dass ich ins Spiel kam.

      Die Bauleitung wurde immer nervöser, denn der Eröffnungstermin stand ja unverrückbar fest. Schließlich griff man zum Bewährtesten der staatlichen Hilfsmittel, der sozialistischen Hilfe. Ein paar zusätzliche Gewerke wurden aus einigen Kombinaten dafür abgestellt. Darunter aus meinem Kombinat die Hälfte der Jugendelektrikerbrigade „Stromschnelle“, deren Brigadier ich war. Na ja, ganz jung waren wir nicht mehr, aber die Brigade hieß nun einmal so. Wir wurden für vier Wochen nach Oberwiesenthal delegiert. So hieß das damals.

      Schließlich konnte das Jugendhotel termingerecht übergeben werden. Krenz hielt die Eröffnungsrede. Überraschend wurden alle am Bau beteiligten Helfer nach der Übergabe des Jugendhotels von ihm zu einem Probedurchlauf eingeladen. Er blieb und feierte mit uns. An seine Rede erinnere ich mich nicht, nur dass er frei sprach in einer angenehmen floskelfreien Sprache mit norddeutschem Akzent. Als die Feier dann richtig losging, kam er von Tisch zu Tisch, fragte, woher wir kämen, was wir weiter vorhätten und stieß mit uns an. Das imponierte nicht nur mir. In der Bar standen immerhin zwölf Tische. Als er sich gegen ein Uhr früh verabschiedete, sprang Heiner Kautz aus meiner Brigade auf und schrie, ohne Auftrag, dafür steht mein Ehrenwort: „Wir sind die Fans von Egon Krenz!“ Das war etwas holprig, gewiss. Doch Sekundenbruchteile später standen alle und die ganze Bar griff den Ruf auf. Ich erinnere mich, dass die Gläser auf den Tischen sprangen vom Widerhall des donnernden Gebrülls: „Wir sind die Fans von Egon Krenz!“

      Das damals war ehrliche Zuneigung. Davon bin ich heute noch überzeugt. Nie zuvor und nie danach habe ich eine ähnliche spontane Sympathiedemonstration für einen SED-Funktionär erlebt. Gut, es war spät und die Getränke waren frei, trotzdem! Doch das lag ein Jahrzehnt oder mehr vor dem Tag, an dem unser damaliges „Idol“ den Sturz des Saarländers einleitete. Doch das Haus DDR war inzwischen marode und nicht mehr zu retten. Für Krenz wäre es vielleicht besser gewesen, er hätte es mit ihm, dem Saarländer, zusammenkrachen lassen. Aber wer kann schon in die Zukunft sehen. Eine echte Chance bekam er jedenfalls nicht mehr. Die Karten waren wohl bereits gemischt und verteilt. Genug von Politik und Politikern. Auch meine persönliche Uhr tickt, laut und unheilvoll.

      Der Frieden in unserer Familie war nach dem großen Badbenutzungskrach wieder so einigermaßen hergestellt. Vor allem weil ich vor der geballten Koalition von Ehefrau Jana, Sohn Waldemar Henry und seiner Ische Ilona dann doch zurückgewichen war. Wir hatten uns verständigt, dass die Beiden ihre morgendlichen Spielchen nicht mehr im Bad vollführten oder zumindest nicht in der Zeit, die mir von Anbeginn unserer ehelichen Gemeinschaft in dieser Wohnung für meine Morgentoilette zugestanden worden war. Dadurch bekam ich morgens auch wieder meinen Bus.

      Im Gegenzug sollte ich keinen weiteren Versuch unternehmen, das mir lästige Pärchen vor die Türe zu setzen. Inzwischen wurde das gesellschaftliche Chaos in allen Lebensbereichen der unmittelbaren Vorwendezeit in der DDR flächendeckend. Davon musste auch die AWG in Mitleidenschaft gezogen worden sein, denn sie machte keine Anstalten, die unserem Waldemar Henry für 1989 fest zugesagte Wohnung bereitzustellen. Unser Pärchen störte das zunächst nicht, denn sie lebten bei uns wie in einem Hotel, in dem nichts etwas kostet. Jana hatte sich für ihren damaligen Ausbruch zwar nicht entschuldigt, mir aber durch ihr Verhalten hier und da zu verstehen gegeben, dass sie mir meinen angeblichen Ausraster nicht weiter nachtrug.

      Trotzdem war mein Leben anders geworden. Nicht nur weil irgendetwas Fremdes zwischen uns getreten war. In unserem Betrieb fanden beinahe täglich irgendwelche Versammlungen statt, in denen hitzig darüber debattiert wurde, wie alles besser, vor allem aber anders werden könne. Daran nahm ich häufig teil, fast immer als Zuhörer. Ich wollte wissen, wohin das alles läuft. Und ehrlich gesagt wich ich damit möglichen weiteren Konflikten in der Familie auch noch aus.

      Anfangs führten das Wort in den Betriebsversammlungen noch überwiegend bekannte Mitarbeiter, Frauen wie Männer meist unterhalb der Führungsetagen, denen es um wirkliche Verbesserungen im Kombinat ging und die Fragen und Lösungsvorschläge wurden überwiegend ruhig und meistens auch sachlich vorgetragen. Nur diskutiert wurde darüber immer hitziger. Nach und nach drängten aber immer undurchsichtigere Typen vor. Ihre Forderungen wurden radikaler und der Ton anmaßend. Misstrauensanträge gegen Leiter waren an der Tagesordnung. Mal mit Erfolg, meistens zwar ohne, aber davon irritiert schmissen Führungskräfte hin, setzten sich in den Westen ab oder wurden