Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
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geplagten Vorfahren kamen mit weit weniger aus, wie übrigens heute noch die größere Hälfte der Weltbevölkerung. Und die revolutionieren auch nicht gleich los, oder sagen wir, nicht immer. Das kann er also nicht gewesen sein, der Grund für das plötzliche Aufbegehren in der DDR.

      Dursten musste auch niemand in der DDR, wenn ich mich verständlich ausdrücke. Und für weitere Bedürfnisse gab es ja immer noch die Kirche und die Gewerkschaft. Erstere war zuständig für die Seele des Volkes, zumindest für den Teil, der noch wusste, was das sein könnte: Seele! Letztere, im weitesten Sinne des Wortes, mehr für den Körper der Werktätigen. Dafür, dass sie friedlich blieben, die Volksmassen, und glaubten, dass die sozialistische Gesellschaft die höhere sei, die den Kapitalismus demnächst ablösen würde. Nicht sofort zwar, aber irgendwann bestimmt. Das schien sicher, deshalb brauchte man keine Reformen und auch keine Anpassungen an die Weltentwicklung. Wir waren es ja, die Erben des Manifests, nicht die da! Das wurde den Werktätigen geduldig erläutert. In Schulen, Universitäten, Parteischulen, Arbeitsbesprechungen, manchmal sogar auf Kampfdemonstrationen, Versammlungen während der Arbeitszeit, aber auch bei der Vergabe von Ferienplätzen oder Wohnungen. Komisch, warum blieb da nichts hängen?

      Die Einheitsgewerkschaft garantierte die Vollbeschäftigung und dafür, dass Hinweise und Beschwerden der Werktätigen, über die Geschäftsleitung oder worüber auch immer, in den Gewerkschafts- und Parteigruppen zwar nicht behoben aber beraten wurden. Nicht wenige Völker der Welt haben uns auch um diesen Standard beneidet. Eine revolutionäre Situation sieht deshalb eigentlich anders aus. Schon Napoleon sagte einst zu seinem schlauen Minister, dem Fürsten Talleyrand-Périgord, dass er nur eine Revolution fürchte: die der leeren Mägen. Na und leere Mägen gab es nicht, trockene Kehlen genauso wenig. Was wir wollten, sei die Freiheit gewesen, behauptet unser Herr Bundespräsident. Ich dagegen bin überzeugt, dass viele Vieles wollten, die meisten aber die D-Mark. Das war sie, die eigentliche, die große Freiheit, wie … nein, lassen wir das Spekulieren!

      Bleiben wir zunächst bei den kleinen Freiheiten, die in den Betrieben. Dort arbeitete die Gewerkschaft die allgemeinen Missfallensäußerungen der Werktätigen über alles und jedes ab. Insofern war sie wichtig, die Gewerkschaft, besonders wenn es in den Betrieben des Volkes brodelte. Angeheizt wurde die wachsende Unzufriedenheit natürlich durch das Westfernsehen. Das wussten wir. Aber auch die von Westreisen zurückkehrenden Rentner zeigten dafür, dass sie in den Westen reisen durften, keine Dankbarkeit, sondern schimpften wie Rohrspatzen auf Partei und Staat, die ihnen das erst ermöglicht hatten. Überhaupt wurde in der DDR immer mehr gemeckert. Diesen Unmut zu kanalisieren, war eine indirekte Aufgabe der Gewerkschaft. Das tat sie durch stundenlanges Palavern mit den Meckerern. Natürlich während der Arbeitszeit. Trat der Feierabend ein, gaben die Meckerer meist auf und entschieden, dass das Problem als gelöst betrachtet werden konnte. Warum gerade mit dem Feierabend? Weil im Arbeitsgesetzbuch der DDR geschrieben stand: „Schöpferische Auseinandersetzungen sind mit den Werktätigen zu führen.“ Von unbezahlten Überstunden zum Lamentieren stand darin nichts.

      Entgegen der allgemeinen Annahme, besonders im Westen unseres Vaterlandes, gab es auch viele Kirchen in der DDR. Jedenfalls mehr als gefüllt werden konnten durch die Gläubigen. Das lag daran, dass sie, die Kirchen, eher unter der „nicht arbeitenden Bevölkerung“ wirkten. Die Damen und Herren Pastoren wollten sich einfach nicht den bewährten Praktiken der SED und ihrer Gewerkschaft anschließen und während der allgemeinen Arbeitszeit predigen. Sie änderten nichts und predigten stur weiter außerhalb der regulären Arbeitszeit. So als hätte sich nichts geändert im Staat des Saarländers. Kein Wunder, dass die Kirchen meist leer blieben. Man stelle sich nur einmal vor, Partei und Gewerkschaft hätten ihre Versammlungen nach dem offiziellen Feierabend organisiert! Dann wären ja die Kirchen besser als die Versammlungsräume gefüllt gewesen. Undenkbar!

      Bezahlt wurden die Prediger aber alle vom Staat. Egal was sie predigten. Die Pastoren in den Kirchen, die Parteisekretäre in den Betrieben und die zahllosen hauptamtlichen Gewerkschafter auch. Nicht nur durch unsere unfreiwilligen Mitgliedsbeiträge. Erhalten wurden Kirchen vom Staat ebenfalls. So wie er die übrige Bausubstanz erhielt. Besser nicht, schlechter auch nicht. Einmal riss man auch eine Kirche ab. Das war in Leipzig und eine dümmliche Demonstration der Macht war es ganz besonders. Darüber wurde dann viel geschimpft. Sehr zu Recht. Dummheit muss eben bestraft werden, so oder so! Es gab aber auch neu gebaute Kirchen in der DDR, in Leipzig auch, sogar mehrere, aber über die redete man nicht. Höchstens über Mormonentempel, jüdische Synagogen und mohammedanische Moscheen. Ja, alles das wurde gebaut. In dieser Beziehung zumindest ging alles relativ gerecht zu in der DDR.

      Ach ja, die Partei- und Staatsführung der DDR war schon ein stolzer Verein. Das heißt die Genossen waren stolz auf sich selbst, aber auch das ist ja eine Form von Stolz. Lange waren alle damit zwar nicht glücklich aber zufrieden. Ansonsten kümmerte sich jeder um seins. Jedenfalls ist es eine nachträgliche Erfindung der Altdissidenten, dass man keine kritische Meinung in der DDR haben durfte. Alles Quatsch, man sollte es sogar. Natürlich nicht gerade über die Partei, weil die ja immer recht hatte. Das wusste jeder und die meisten beachteten es auch. Die Regierung durfte man dagegen schon kritisieren, wenn sie, die Kritik, keinen allzu politischen Hintergrund hatte, gemäßigt vorgetragen wurde und ihr, der Regierung, zuvor genügend Erfolge zumindest aber positive Absichten bescheinigt wurden. Danach blieb dann meist alles so wie es war.

      Bei Kritiken an den Firmenchefs und den sonstigen betrieblichen Leitern musste man keine Zurückhaltung üben. Im Ton nicht und auch nicht in der Sache. Die waren schuld an allen Missständen hieß es, nicht die Partei, die Regierung auch nicht. Doch in den Betrieben sollten die Anregungen und Hinweise der Werktätigen ernst genommen und beachtet werden. Auch das stand im Arbeitsgesetzbuch. Ich jedenfalls, als davon Betroffener, habe das kennengelernt, als ich die Politik von Partei und Regierung meiner Elektrikerbrigade in den noch zu beschreibenden „Arbeitsbesprechungen“ immer wieder positiv erläuterte. Gab es trotzdem Unmutsbekundungen an diesem oder jenem in der Firma, musste die Disziplin natürlich nach der Aussprache sanft wiederhergestellt werden. Der dafür gut geeignete Zeitpunkt, fand ich schließlich heraus, war die Quartalsprämienverteilung. Die Beratung darüber fand im Zusammenhang mit der Auswertung des sozialistischen Wettbewerbs in den Arbeitsberatungen statt. Da blieb der Ton gedämpft und Meckereien uferten nie aus. Waren sie verteilt, die Prämien, gingen wir zu den „kollektiven Gesamtinteressen“ über. Um diese „kollektiven Gesamtinteressen“ richtig zur Wirkung kommen zu lassen, wurde zu gegebenen Anlässen ein Schild mit der Aufschrift „Arbeitsbesprechung! Bitte nicht stören“ an die Tür unseres Aufenthaltsraumes gehängt und auch respektiert, zumindest fast immer. Leider war es dann so, dass irgendwann die Geschäftsleitung unseres Betriebes, die von vor der Wende natürlich, den Verkauf von Bier und Schnaps im Betriebskonsum untersagte. Natürlich belastete eine solche Entscheidung das Betriebsklima in den Kombinaten. Es ist vielleicht übertrieben, aber ich behaupte, dass es einer der Nägel für den späteren Sarg der DDR war. Daraus zum Beispiel hätte auch unser Kumpel Gorbi lernen können. Dann hätte er den Russen nicht das Saufen verboten. Ja, auch von der DDR lernen, kann siegen lernen bedeuten.

      Das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, weil du ja nie in einem sozialistischen Großbetrieb unter, sondern nur über den Werktätigen gearbeitet hast. Und das, mein Lieber, ist eine ganz andere Perspektive. Wir lösten zwar das Problem, indem wir schweren Herzens „das Benötigte“ schon abends in den Heimatorten einkauften und früh mit in den Betrieb brachten. Doch das war ein Verstoß gegen die Arbeitsordnung und hätte nicht sein müssen.

      Warum brach sie dann aber wirklich so plötzlich aus, die „Friedliche Revolution“? Ganz einfach zu sagen, erklärt man uns heute. Die Dissidenten leisteten Grundlagenarbeit. Der Staat war ein Unrechtsstaat! Und die Stasi ein Unterdrückungsinstrument! Und die Regierung unfähig! Und die Partei diktatorisch. Und das Volk wollte die Freiheit! Und die Wirtschaft war marode! Und die Presse war eine Lügenpresse! Nein! Stopp, stopp, stopp! Das kam ja erst später. Hören wir lieber auf, bevor wir uns verrennen! Nein, nein, es war durchaus nicht alles schlecht im „real existierenden Sozialismus“. Die garantiert sicheren Arbeitsplätze zum Beispiel. Hätten alle gewusst, wie die Arbeitsbedingungen im Westen wirklich waren, wer weiß …? Ich weiß es jetzt und eins ist sicher, dafür ginge ich nie mehr auf die Straße. Aber die Demonstranten gingen damals auch von anderen Zielen aus, obgleich sie auf keinem Plakat zu finden