Überhaupt das Volkseigentum! „Man kann aus den Betrieben noch viel mehr rausholen“, lehrte uns die Partei und die Werktätigen setzten die Losung um. So, wie sie sie verstanden. Zur Arbeit wurden wir sogar mit dem Bus gefahren. Zurück ebenfalls. Umsonst natürlich. Da waren aber wenigstens alle zur gleichen Zeit da. Und abends hörten alle zugleich auf. Wer wollte schon laufen? Das ganze hieß geregelte Arbeitszeit. Wo sind sie geblieben, die hart erkämpften Privilegien der Arbeiter?
Na ja, die Privilegien! Eigentlich müsste man ja anders fragen. Warum sollte es das noch geben? Damals verdienten ja fast alle das Gleiche, heute ist es nicht mehr ganz so. Und wer heute schon Arbeit hat, soll gefälligst sehen, wie er da hinkommt. Das ist nur gerecht. Die Arbeitslosen werden schließlich auch nicht umsonst kutschiert, um ihre Stütze abzuholen. Und früher, in der DDR, gab es das ja nicht: Arbeitslose und Arbeitsämter. Es geht etwas durcheinander, mein alter Freund, ich weiß das, aber versteh mich bitte, ich muss für mich selbst erst herausfinden, was uns 1989 eigentlich so plötzlich auf die Straße getrieben hat. Scheinbar war ja alles in Ordnung im Staat mit dem Saarländer an der Spitze. Wer einige Jahrzehnte später in der damaligen Presse, nicht nur der im Osten, nachliest, was da so berichtet wurde über das zehntgrößte Industrieland der Welt, wird den Eindruck jedenfalls bekommen.
Und dann plötzlich wollte es das alles so nicht mehr, das undankbare Volk, und begab sich auf die Straße, um Freiheit einzufordern. Ich auch und sogar besonders freudig. Freiheit bedeutete, dass es anders werden sollte im „real existierenden Sozialismus“. Was genau alles anders werden sollte, war nicht ganz klar. Nicht alles jedenfalls, aber vieles, und diesen Forderungen schlossen wir uns an. Wir, das waren die Werktätigen unseres Kombinats. Ich auch und meine Kumpels aus der Betriebselektrikerbrigade „Stromschnelle“, die ich leitete. „Auf nach Leipzig zur Demo“, scholl ein Ruf wie Donnerhall durch die Betriebe! Und wir fuhren demonstrieren! Ja, sogar nach Leipzig und auf eigene Kosten. Zum ersten Mal so richtig freiwillig, wenn ich mich recht erinnere, und sogar nach der regulären Arbeitszeit, am Anfang zumindest, und das war auch gewöhnungsbedürftig.
Wochenlang waren wir an jedem Montag in Leipzig um den Ring marschiert. Erst ein Häuflein voller Neugier, Mut und Angst zugleich, dann wurde daraus ein Haufen, bei dem die Angst nicht kleiner war, der Mut aber wurde größer und das Gefühl, etwas ändern zu können, mächtig. Zu vorletzt demonstrierte wirklich das Volk. Aber wie sagte schon ein schlitzohriger englischer Politiker? „England darf in einem Krieg jede Schlacht verlieren, nur die letzte nicht.“ Hätten wir das nur beherzigt. Was war das für ein herrliches Gefühl damals, den Schulterschluss der Unzufriedenen zu spüren und im Chor hinüberzurufen zu den Mächtigen, dass wir es sind, das Volk, das gehört werden wollte. Erst riefen wir leise, dann lauter, schließlich machtvoll: „WIR SIND DAS VOLK!“ Ein Volk riefen wir nicht. Damals nicht. Das kam später. Dieser Ruf war nicht der unsere. Wer von den Gutmenschen ihn übernommen und demagogisch eingebracht hat, wird wohl nicht mehr zu ermitteln sein. Übernommen hat derjenige oder diejenigen ihn jedenfalls von Hitler. Geprägt hat der den Begriff. Das ist erwiesen, wenn er es auch nicht in Gedanken an die Demos von ’89/90 getan hat. Und zwar prägte er ihn am 4. Dezember 1930 in einer programmatisch, demagogischen Rede vor Studenten der Berliner Technischen Hochschule (abgedruckt: „Völkischer Beobachter“ vom 9. Dezember 1930). Doch das ist eine andere Geschichte. Überhaupt sollte man mit Begriffen nicht gar so spitzfindig umgehen. Schließlich ist auch die Wortschöpfung „Volksrepublik“ von Hitler. Den Begriff prägte er am 2. August 1938 in seiner Rede zum Richtfest der Neuen Reichskanzlei, gehalten in der damaligen Deutschlandhalle. Na ja, man kann ja nicht alles wissen als Lenker. Und wir, die einfachen Demonstranten, wollten nur, dass es besser wird. Nicht alles, aber vieles! Deshalb achteten wir nicht so genau auf Wortspiele. Hätten wir es nur beherzigt, dass wir es waren, das Volk, denn bald kam doch alles ganz anders.
III
Bevor ich weitererzähle, stelle ich mich vielleicht lieber erst vor. Nicht dir, mein Freund, denn du und ich, wir kennen uns. Vielleicht aber denen, die das doch einmal zufällig lesen! Vieles kann passieren. Meine letzte Chefin zum Beispiel, die hat mich sogar um ein Buch gebeten, sollte ich doch noch einmal eins schreiben. Nun, das schaffe ich jetzt nicht mehr. Solltest du aber vielleicht, oder sonst wer … dann vergesst sie bitte nicht.
Vorgestellt versteht man sich besser. Also, Heinrich Paschke ist mein im Pass eingetragener Name. Meine Freunde und Kollegen nennen mich Heinz. Meine mir angetraute Frau Gemahlin ebenfalls, nur manchmal, wenn sie wütend auf mich ist, nennt sie mich Heini. Das kam vor der Wende aber selten vor, denn wir waren ein glückliches Paar. Auch im ’89er Herbst noch, als diese Geschichte begann. Damals war ich 48 Jahre alt, meine geliebte Frau Jana fast 39 und unser gemeinsamer Sohn Waldemar 21. Der war unstrittig unser gemeinsam erschaffener, ein wenig renitenter, Sprössling. Bis auf seinen Namen. Den hatte er von seinem Großvater und ihn legte er am Tag seiner Volljährigkeit eigenmächtig ab. 150 Mark der DDR hatte die Namensänderung gekostet und geborgt hatte er sie sich unter scheinheiligen Vorwänden von eben diesem seinem Großvater, der ebenfalls Waldemar hieß und der nebenbei auch mein Vater war. Das vergaß er zwar manchmal und ich oft, denn lieben gelernt hatten wir uns nicht.
Durchgesetzt auf dem „Amt für Personenstandswesen“, wie in der DDR die Standesämter genannt wurden, hatte er die Namensänderung selbst, unser Waldemar. Das heißt fast. Seinen ihm von uns angedienten altdeutschen Namen wollte er nicht mehr tragen. Nein, wahrscheinlich nicht aus politischen Gründen, sondern aus Eitelkeit. „Wer heißt denn noch so, außer mir und meinem Opa?“ Was er da fragte, war auch nicht ganz falsch.
Heinrich wollte er künftig heißen. Das ist zwar auch ein altdeutscher Name, aber der Dramatiker Kleist hieß so, argumentierte Waldemar. Der Dichter Heine auch und der Schriftsteller Mann, einer von den vielen Manns, welcher genau, wusste er nicht, ebenfalls. Dass ich, sein treusorgender Vater, auch so hieß, spielte in seinen Überlegungen keine Rolle. Die altdeutsche Form von Heinrich wollte er natürlich nicht annehmen. Alles was deutsch war, war ihm suspekt. Das hatte er so in der Schule gelernt. Und dann war ihm noch untergekommen, dass auch Himmler so hieß, sagte er, und einige reaktionäre deutsche Kaiser ebenfalls. Nein, so heißen wollte er auch wiederum nicht. Waldemar wollte die englische Form des Namens, denn englisch sei so gut wie amerikanisch und was amerikanisch ist, ist okay, alles! „Henry“ wollte er sich deshalb künftig nennen. Dass das nicht nur der Name der, aus seiner Sicht, „fortschrittlichen“ Herren Kissinger und Ford war, sondern auch einiger genauso reaktionärer französischer Könige, störte ihn nicht weiter. Reaktionär waren für ihn sowieso nur Deutsche, die sich Heinrich nannten, nicht ausländische. Und französische, englische und besonders amerikanische Henrys überhaupt nicht, egal was und wer sie waren.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei seinem Namenswechsel spielte die 22-jährige „Sachbearbeiterin für Vornamensfragen“ beim „Amt für Personenstandswesen“ Bitterfeld, die auf den Namen Ilona Schön hörte. Die hatte er bei einem Subbotnik der FDJ kennengelernt. Ihn selbst fand die schöne Schön ganz okay, seinen Namen Waldemar aber „ätzend“. Der ist „wirklich echt blöd“! Den von ihm nach ihrem Vorschlag gewählten neuen Namen Henry fand sie „okay“, ihre gemeinsame Argumentation für die Änderung „geil“ und schließlich ihn selbst mit seinem neuen Namen richtig „sexy“. Ob der Namenswechsel genau dem damals geltenden Volkswillen entsprach oder mehr dem sich in der Vorwendezeit auch in der DDR schnell verwestlichenden Zeitgeist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich hatte man in den Ämtern für Personenstandswesen der DDR keinen Nerv mehr, sich ungeliebten amerikanischen Namenswünschen mit aller Kraft zu verweigern! Jedenfalls bekam Waldemar mehr Hilfe bei der gewünschten Namensänderung, als es die „amtliche Pflicht“ von Ilona Schön gewesen wäre. Zusammen mit dem vom Großvater Waldemar geborgten und ihm bis heute schuldig gebliebenen Betrag von 150 Mark schufen beide Tatsachen. Das kommt vor, wenn ein Wille da ist, sind es gar zwei … na, wir wissen es inzwischen.
Der nun im Register gestrichene Name Waldemar unseres Erstgeborenen hatte allerdings