Die uns versprochene Autobestellung, das droht in Vergessenheit zu geraten, stellte in der DDR schon einen Wert an sich dar. Sie war deshalb eine reale Gegenleistung bei dem Deal. Mein Vater hätte den Bestelltermin auch gut und gerne an andere verkaufen können. An Käufern mangelte es nicht, damals. Als Waldemar Henry mit seinem Wunsch zur Namensänderung vorstellig wurde, schämten wir uns zwar, seinerzeit darauf eingegangen zu sein. Doch dem Namensänderungswunsch konnten wir wegen der Treue zum Deal nicht zustimmen. Die setzte er, wie bereits berichtet, schließlich mit Hilfe der Sachbearbeiterin Schön beim Amt für Personenstandswesen Bitterfeld ohne unseren Segen durch.
Die Bestelllaufzeit für einen Wartburg betrug in jener Zeit ungefähr 16 Jahre. So lange im Voraus hatten wir uns nicht binden wollen, als es uns möglich gewesen wäre, eine Autobestellung aufzugeben. Und auf die Idee, es zu tun und damit später vielleicht zu handeln, kamen wir nicht. Richtiger, Jana und ich lehnten solche halbkriminellen Praktiken ab. Außerdem war da noch die Wohnung mit allem, was dazugehört, schließlich der im Anmarsch befindliche Nachwuchs. Dass Bestelldaten für ein Auto auf dem freien Markt gehandelt wurden im „real existierenden Sozialismus“ der DDR, ist Außenstehenden schwer zu erklären. Aber heute verstehen die einfachen Leute ja in der Regel auch nicht, wie man Steuern in Größenordnungen straflos hinterziehen kann. Für damalige Geschäftemacher war das normal, für heutige eben vieles andere. Und die Gegenleistung, dass unser Sohn den Namen seines Großvaters tragen sollte, kostete uns ja nichts und direkt ehrenrührig war der Deal auch nicht. Er belastete lediglich lange Zeit später das Verhältnis zwischen unserem Sohn und mir.
Mein Vater Waldemar allerdings kannte sich aus mit Geschäften hart am Rande der Legalität. Selbst hatte er manchmal sechs Autobestellungen gleichzeitig laufen, auf unterschiedliche Namen. Damit reduzierten sich rein rechnerisch die Bestelllaufzeiten für ihn oder für den, an den er den nahen Liefertermin verkaufte, von 16 auf unter drei Jahre. Kein schlechtes Geschäft, wenn man nicht die Autos kaufte, die Bestellungen dagegen an finanzkräftige Interessenten abtrat. Der Gewinn konnte ungefähr den Gegenwert eines Autos betragen. Je nach Skrupellosigkeit des Verkäufers und Bonität des Abnehmers. Das Problem bestand lediglich darin, Anmelder zu finden, die das Geschäftsmodell nicht selbst kannten. Mein Vater löste das mit Hilfe unserer Familie. Zwei Bestellungen liefen immer auf seinen Namen und den meiner Mutter, je zwei auf Janas Eltern, die, glaube ich, davon zunächst nichts ahnten. Danach sogar je eine auf uns, meine Frau Jana, mich und Waldemar Henry. Eine davon überließ uns schließlich Vater Waldemar, kostenlos, fügte er hinzu.
Na, Schwamm darüber. „Wer tüchtig ist, bekommt in jeder Gesellschaft seine Chance“, sagte mein Vater mit ironischem Nicken in meine Richtung. „Heute hat man leider dieses tolle Geschäftsmodell durch die Marktwirtschaft und die moralische Kurzlebigkeit der Westautos ruiniert“, bedauerte er nach der Wende. „Was waren das für tolle Zeiten, als man einen zehn Jahre gelaufenen Wartburg oder Trabant noch über dem ursprünglichen Neuwert verkaufen konnte“, schwärmte er. „Schade, aber alles hat seine Zeit. Dafür kann man heute leichter Steuern hinterziehen, Rentner betrügen, Firmen schleifen und den Gewinn einstreichen. Was war dagegen schon das Verkloppen eines Liefertermins?“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu, wenn ihm wieder einmal ein Deal gelungen war. „Schade, schade nur, dass die Wende nicht zwanzig Jahre früher gekommen ist“, sagte er bedauernd, „ich jedenfalls wäre heute Millionär!“
V
Alles in allem ging es uns materiell ja eigentlich ganz gut im „real existierenden Sozialismus“. Zumindest solange wir die Landesgrenzen nicht überschritten. Taten wir das, zum Glück ging es ja nur nach Osten, begann unsere Diskriminierung. Wir konnten eben in keiner Beziehung mithalten, nicht einmal mit dem letzten Arbeitslosen von „denen da drüben“. Unvergesslich wird mir ein Erlebnis in einer Kleinstadt der hintersten polnischen Provinz bleiben. Das Ereignis fand an der Bar des einzigen Hotels in jenem Ort statt. Wir waren zur Montage dorthin geschickt worden und sollten Hochleistungsmaschinen aus unserer Firma in einem neu gebauten Werk anschließen und einfahren, wie das genannt wurde. Eines Abends langweilten wir uns, mein Kollege und ich. Wir saßen in der halbdunklen, einzigen Bar der ganzen Gegend. Das Etablissement war spärlich und nur von Männern besucht. Wir waren, glaube ich, beim sechsten oder siebenten widerlich warmen polnischen Wodka angelangt, der bekanntlich in jedem Land der Welt alle Frauen immer schöner werden lässt. Zu später Stunde, als wir schon alle Hoffnung auf ein interessantes harmloses Gespräch aufgegeben hatten, flogen doch noch ein paar Mädels ein, deren Passion in Polen mit „Möwen“ umschrieben wurde. Schnell teilten sie sich an den Tischen der wenigen Männer auf. Eine etwas korpulente exotische Schönheit schob einen Barhocker zwischen mich und meinen Kollegen und fragte mit einem bezaubernden Augenaufschlag, zuerst englisch, dann in gebrochenem Deutsch, ob wir ihr nicht ein Gläschen Krim-Sekt spendieren würden. Das taten wir natürlich gern. Nicht, dass ich auch nur im Entferntesten daran gedacht hätte, meine geliebte Jana hier im finsteren Polen mit einer einheimischen Möwe zu betrügen. Das hätte ich nie getan. Aber unterhalten wollten wir uns schon mit ihr. Doch gerade als wir sie zu einem zweiten Glas einladen wollten, entschloss sie sich, den Vorgang abzukürzen und fragte sehr direkt: „Kommt ihr aus dem großen, dem kleinen Deutschland oder Österreich?“ Als ich wahrheitsgemäß antwortete: „Aus dem kleinen“, denn ich nahm an, sie würde ehrlich erfreut sein, auf zwei Angehörige eines sozialistischen Brudervolkes getroffen zu sein, rutschte sie mit einem leisen Gemurmel, das mich an einen, auch bei uns gebräuchlichen, Fluch erinnerte, ohne ein weiteres Wort vom Barhocker. Nie werde ich den Blick tiefster Verachtung vergessen, den sie uns noch zuwarf. Völlig zu Recht, denn wir hatten sie unbewusst geschädigt, weil wir sie von der Arbeit abgehalten hatten, wie ich heute weiß. Eine Minute später hörten wir sie an einem nahen Tisch, mit drei betagten äußerst fiesen Typen, die gleiche Frage stellen. Die mussten die Typen wohl zufriedenstellend beantwortet haben, denn sie setzte sich zu ihnen an den Tisch. Der Barkeeper öffnete auf ein Fingerschnipsen des Fiesesten der drei Fieslinge den Kühlschrank, holte einen eiskalten französischen Champagner hervor, zumindest hatte die Flasche ein solches Etikett, und servierte ihn in devoter Haltung direkt am Tisch. Mehr wollten wir nicht sehen und hören auch nicht, deshalb verließen wir sofort die Bar. Unsere Ostmark nahm der Schnapsschüttler zwar, anstelle der beinahe schon wertlosen einheimischen Währung, steckte sie aber inklusive Trinkgeld mit einer beleidigenden Gleichgültigkeit und ohne zu danken ein.
Wem das geschah, der kann vielleicht unsere immer wieder aufflammende „Freiheitssehnsucht“, die uns schließlich um den Leipziger Ring trieb, besser begreifen. Sicher hat auch unser heutiger Herr Bundespräsident im Osten, bei den „Brudervölkern der DDR“, etwas Ähnliches erlebt. Seine schwer zu erforschenden Wege müssen ihn auch zu unseren Nachbarn und dort in eine Bar mit Möwen geführt haben. Irgendeine Erklärung muss es doch dafür geben, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit gebetsmühlenartig die „Freiheit“ beschwört. Was damit gemeint ist, wissen wir ja jetzt. Kränkungen haben eben manchmal eine Langzeitwirkung und direkt spricht ja niemand gern darüber. Wir aber wissen, dass nach einem solchen Vorkommnis selbst dem an mehreren Parteischulen studierten treuesten Genossen Zweifel an der historischen Mission des „real existierenden Sozialismus“ kommen mussten. Uns jedenfalls fiel nach dem Barbesuch sofort wieder ein, wie sehr wir geknechtet waren im Osten und das Bedürfnis nach der Freiheit, die D-Mark hieß, stieg.
Ich hatte Elektriker gelernt, anschließend in Zwickau auf Ingenieur studiert und leitete in unserem Unternehmen eine Brigade Betriebshandwerker, genauer gesagt die Elektrikerbrigade „Stromschnelle“. Meine Frau Jana, ich erwähnte es bereits, war Slawistin an der hiesigen Universität und unser Sohn Dreher in einem metallbearbeitenden Betrieb der Stadt Leipzig. Eigentlich liefen unsere familiären Beziehungen bis dahin recht harmonisch. Irgendwann setzten dann aber auch bei uns, zunächst unmerklich, die Vorwendeturbulenzen ein. Jeder gegen jeden. Als ich es bemerkte, war es fast zu spät.
Bei seiner nunmehr festen Freundin Ilona hatte unser Sohn Waldemar Henry nicht nur wegen seines neuen „Sexy-Namens“ das Rennen gemacht, sondern vor allem, weil er ihr gleich am Anfang ihrer sich entwickelnden Beziehung versichert hatte, dass er im laufenden Jahr, also noch 1989, fest auf der Verteilerliste der AWG für eine Neubauwohnung stände. Das war eine „Super-Aussteuer“ für jeden künftigen Lebenspartner, vielleicht