Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
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nicht. Sie gab ihrem bisherigen Freund, der auf den Namen Günter Krause hörte, den Laufpass und zog zunächst zu uns. Das heißt in das bis dahin von Waldemar Henry allein bewohnte Kinderzimmer. Mich zu fragen, hatten sie aus Versehen vergessen. Zunächst schwieg ich, wenn auch verbissen. Doch als ich in der Folge davon innerhalb einer Woche zweimal meinen Bus verpasste, weil die Beiden schamlos gemeinsam unser Bad zu meiner gewohnten Aufstehzeit blockierten und ich mit dem Fahrrad zur Arbeit hetzen musste, lief das Fass über.

      Das Verhalten Waldemar Henrys und seiner Ische überschritt meine ohnehin durch die Anspannungen niedrig gewordene Toleranzgrenze. Ich kündigte zunächst meiner geliebten Frau Jana an, dass ich die Beiden ratz patz auf die Straße zu setzen gedächte. Sie stimmte mir zu meiner Überraschung nicht zu, sondern fing an zu schmeicheln. „Sei doch nicht so borstig“, begann sie und strich mir demonstrativ mein unrasiertes Kinn. „Die sind nun mal jung und verliebt. Es ist ja auch nicht für lange. Dann haben sie ihre eigene Wohnung.“ Ich blieb hart. Da wurde meine Jana schnippisch. „Du bist nur neidisch“, fing sie an. Dann sich steigernd und meiner Meinung nach völlig aus dem Zusammenhang gerissen: „Denke ruhig einmal nach, bevor du dich aufspielst, wie lange es her ist, dass wir beide uns gemeinsam im Bad vergnügt haben.“ Als ich auf die Anspielung nicht reagierte, wurde sie richtig spitz: „Das sagt dir natürlich nichts mehr?“ Es sagte mir schon etwas. Ich wurde sogar verlegen, wollte aber das Thema nicht wechseln. Wütend gemacht hatte mich ja nicht allein die verschlossene Türe zum Bad, sondern alles zusammen. Deshalb schniefte ich nur, jede Vorsicht vergessend: „In meiner Wohnung gelten immer noch meine Regeln. Auch wenn ich schon nicht gefragt werde, bevor mein Sohn hier so etwas wie ein Stundenhotel einrichtet.“ Das war vielleicht etwas stark und traf, zugegeben, auch nicht genau den Kern. Sofort lief meine geliebte Jana rot wie die Arbeiterfahne an und holte zum Tiefschlag aus: „Unsere Wohnung meinst du wohl und unser Sohn ist es auch. Zumindest wahrscheinlich!“ Das saß bei mir und sie wusste, dass es gesessen hatte. Jana drehte sich um und knallte mir vor der Nase die Türe zu. Es war der erste wirklich böse Streit zwischen uns. Niemand war mehr darüber verblüfft als ich.

      Entsetzt über den ungewohnten Ton und die Andeutung in der letzten Satzhälfte starrte ich ihr hinterher, bis ich ihr schließlich ins Wohnzimmer folgte. Rette, was noch zu retten ist, muss ich wohl gedacht haben. Auf jeden Fall machte ich alles falsch. Mein Eintritt ins Wohnzimmer besänftigte Jana nicht, sondern stachelte sie richtig auf. Messerscharf klang jetzt ihre Stimme: „Wann hätte dich der Kleine“, gemeint war unser 1,86 Meter große Lulatsch Waldemar Henry, „eigentlich dazu befragen sollen? Du hast wohl vergessen, dass du deine Zeit seit Wochen nur noch auf zweifelhaften Demos oder mit sinnlosen Palavern in deiner Firma, aber nicht hier, in der eigenen Familie, verbracht hast?“ Ich war so erschrocken, dass mir nicht sofort eine passende Entgegnung einfiel. Das legte Jana wahrscheinlich als Sieg aus, denn sie schmetterte mir wie eine Fanfare entgegen: „Wenn hier einer geht, dann bist du es!“ Nach diesem kategorischen Imperativ knallten wieder die Türen. Erst die vom Wohn-, dann die vom Schlafzimmer. Dabei blieb es nicht. Jana verbannte mich für die folgende Nacht auf unsere Wohnzimmercouch. Ich begann zu ahnen, dass etwas schief zu laufen begann in unserer Familie.

      Noch heute, unmittelbar vor meinem endgültigen Abgang, stelle ich mir immer wieder die Frage: Warum war es uns Ostdeutschen auf einmal, im Herbst ’89, so wichtig, spontan, sofort und geradezu kopf- und führungslos in die deutsche Einheit zu rennen? Gewiss, die Lage war angespannt in der DDR. Und die SED hatte ihren Kredit verspielt. Die Bevölkerung wollte nicht mehr, nicht mehr so. Alles richtig! Aber beginnt man deshalb ohne Führung eine Revolution? Immer vorausgesetzt, die „friedliche“ war eine solche! Selbst für den Zusammenschluss von zwei Handwerksbetrieben braucht man zumindest annähernd gleichberechtigte Verhandlungspartner. Das denke ich mir so als Nichtpolitiker und Nichtfachmann, aber vielleicht irre ich mich auch?

      Wir, die Ossis, brauchten das bei der Aufgabe unseres Landes offenbar nicht. Wir hatten ja erfahrene Brüder und Schwestern da drüben. Die würden es schon richten. Was sie dann auch taten. Wir aber, wir wollten sie unbedingt und schnell, die Freiheit oder die D-Mark, was ein Synonym für das Gleiche war in den meisten unserer Köpfe. Na schön, heute wissen wir es besser. Ich auch. Man muss nur zuhören in den Wirtshäusern. Vielleicht erinnerst du dich an mein Erlebnis in der finsteren polnischen Bar. Das prägt. Jeder im Osten hatte damit Erfahrungen gesammelt, nicht nur im Ausland, auch im einheimischen Intershop, in den Nobelhotels und, zumindest in den letzten Jahren vor dem 3. Oktober 1990, sogar mit Handwerkern und anderen Dienstleistern. Die D-Mark war zur Zweitwährung im eigenen Land geworden. Wer sie besaß, war privilegiert, wer nicht … na, das hatten wir schon. Nein, so erzieht man keine Staatsbürger, im weitesten Sinne des Wortes.

      Jeder, der in der DDR eine Schule besucht hatte, wusste, egal ob er es von Rousseau, Robespierre, Marx, Engels, Lenin, Napoleon oder sogar Stalin gelernt hatte, dass eine Revolution ohne Programm und Führung nicht gewonnen werden kann. Dafür gibt es tatsächlich kein Beispiel in der Geschichte. Doch das sind heute überflüssige Fragen. Damals hätten wir sie stellen müssen! Aber – niemand unter den „Deutschen Demokratischen Revolutionären“ war offen für kritische Überlegungen. Es gab nur eins, vorwärts, vorwärts, vorwärts. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob und wann bei einigen der Punkt erreicht war, von dem an sie die Veränderungen im Land kritisch zu sehen begannen. Falls überhaupt jemals. Auf jeden Fall war es zu spät. „Ist ein Pfeil einmal vom Bogen geschnellt, kann keine Macht der Welt ihn zurückholen“, sagte der große Mongolenführer Temudschin, der später zum Dschinghis Khan wurde. Und der wusste, wovon er sprach.

      Ich jedenfalls fuhr von da an nur noch gelegentlich zur Montagsdemo nach Leipzig. Es war ja richtig, dass die Zeit reif für revolutionäre Veränderungen war. Nur die Ungeduld des immer unzufriedener werdenden Volkes war eine kaum noch zu beherrschende Triebkraft. Wer behielt da schon einen kühlen Kopf? Das fragte ich mich immer häufiger, bis es sich nicht mehr verdrängen ließ. Angst vor der Zukunft stieg in mir hoch. Niemand schien darüber nachzudenken, dass man bei einer eventuellen Wiedervereinigung nichts geschenkt bekommen würde. Kampf würde es bedeuten, nicht Kuschel-Kurs! Einen Einigungsvertrag aushandeln zumindest auf annähernder Augenhöhe! Wer sollte das tun, wenn alle Autoritäten und Fachleute des eigenen Landes unter Generalverdacht gestellt, beschimpft und schließlich abgewählt wurden? Auf welcher Rechtsgrundlage auch immer? Wer dachte schon darüber nach, dass die Früchte, selbst der friedlichsten der vorangegangenen Revolutionen, nie in den Taschen der Revolutionäre, sondern in denen der Geschäftemacher gelandet waren? Und was erst geschehen wird, dachte ich manchmal, wenn es aufseiten der Revolutionäre weder ein klares Ziel noch eine autorisierte Führung gibt? Wahrscheinlich ein böses Erwachen! Wir hätten es wissen können, wie es geht nach vergeigten Revolutionen, denn so ähnlich muss es schon 1848 gewesen sein, sinnierte ich. Georg Werth oder Heinrich Heine, jedenfalls einer der Achtundvierziger, glaube ich, schrieb damals: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!“

      Dem muss es ähnlich ergangen sein wie mir, dachte ich. In unserer Euphorie schrien wir zwar laut: „Weg mit der SED-Herrschaft!“, „Stasi in den Tagebau!“, „Freiheit für Wort und Schrift!“ und so weiter und so fort. Forderungen, aber kein Programm für die Zukunft. Bereits zwei Jahre später wären ein paar Millionen Ostdeutsche glücklich gewesen, hätten sie wenigstens im Tagebau arbeiten dürfen.

      „Reisefreiheit!“ – Wer wollte die nicht? Aber war das ein wichtiges Ziel in einer Revolution? Alle wollten alles. Möglichst sofort! Und alles sollte aus dem Westen kommen! Umsonst? Oder zu welchem Preis? Mir jedenfalls wurde es manchmal ganz schlecht, wenn ich auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz die Tiraden der selbsternannten Tribunen zu hören bekam. Nur wenig früher als die Geschäftemacher aus dem Westen, mithilfe der Treuhand, schleichend aber seelenruhig und unbehelligt ihre Claims absteckten.

      Spontane Revolutionen sind chancenlos, wenn niemand sie führt. Das schrieb Altgenosse Lenin bereits 1905 als Lehre nach der vergeigten ersten russischen Revolution. Eine, die noch bürgerliche Ziele verfolgte. Wenn es stimmt, hat er wohl recht gehabt. Nicht nur in der DDR überschlugen sich die Ereignisse. Auch in Ungarn, Rumänien, Tschechien. Eine organisierte Führung gab es aber nur in Polen. Die Völker des Ostblocks wollten nicht weiter experimentieren an einem gescheiterten System,