Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
Скачать книгу
Na ja, das passiert eben. Gut so! Denn so blieben die Zerwürfnisse kurz, unsere Freundschaft lang.

      Mit Prognosen war ich schon in der Schule nicht der Stärkste. Dazu fehlte mir die Fantasie. Doch ich schätze, zwischen dem Anfang und dem unausweichlichen, weil biologisch bedingtem, Ende unserer Freundschaft werden so annähernd siebzig Jahre liegen. Keine einfachen. Es sind wenige Menschen, denen es vergönnt ist, so lange „eines Freundes Freund zu sein“, wie der Dichter sagt, diesmal ein deutscher.

      Seit einiger Zeit weiß ich, dass ich unheilbar krank bin. Vor Jana und unserem Sohn Waldemar Henry habe ich es lange verschwiegen, genau wie vor dir. Ja, manchmal hätte ich schon ganz gern darüber reden wollen. Du kennst sie ja sicher selbst, die Momente des Selbstmitleids, die abends einsetzen, etwa so nach dem fünften Gläschen. Manchmal zumindest! Doch nein, sagte ich mir, es bringt absolut nichts, Menschen, die einem nahe stehen, mit eigenen komplizierten Problemen zu belasten. Das bleibt meine Meinung, denn es ist zu spät, sie zu ändern.

      Gesprochen habe ich manchmal über mich und das Ende mit Katarina. So heißt meine angehende Schwiegertochter. Sie ist ein Glücksfall für mich, denn sie fühlt meine tiefe Trauer, mein eigenes Unvermögen, und sie verlangt keine Erklärungen. Eine Seelenverbindung könnte man sagen! Ja, so etwas gibt es. Das erlebe ich gerade. Warum der HERR aber gerade diese und nicht jene Seelen verbindet, weiß ich nicht! In der Bibel fand ich dazu keine Antwort. Ich denke, es ist ein von der Vorsehung installierter Ausgleich dafür, dass heutige Ärzte keine Wunder mehr vollbringen können. Sie können es nicht, weil uns der Glaube an Wunder abhandengekommen ist in der Marktwirtschaft. An Wunder wollen wir nicht glauben, dafür an Hightech und sonstige Geräte. Wir verachten den Teil des Schamanismus in der Medizin, akzeptieren es aber, dass der Arzt zum Unternehmer geworden ist, kaum anders als der Manager, der Fleischer oder der Schweinezüchter. Die Zeit ist zu Geld geworden. Die Ethik zum leeren Begriff.

      Na, ich will nicht meckern. Mein Hausarzt heuchelte nicht. Sein Gesicht sagte mir mehr als tausend Worte, als er es endlich vom Computer ab- und mir zuwandte. Den Rest sprach er dann doch aus, hart aber ehrlich. „Nichts mehr zu machen, mein alter Heinrich!“ Das war das Wesentliche. „Ein paar Wochen noch, vielleicht auch Monate. Niemand kann ewig leben. Also nutze die dir bleibende Zeit.“ – „Heilmöglichkeiten?“ Ich fragte es der guten Ordnung halber, nicht weil ich noch Hoffnung hatte. Er schüttelte langsam seinen Kopf. Nie ist mir etwas so endgültig vorgekommen wie dieses Kopfschütteln. Nach dem ersten heftigen Schock war ich ihm dankbar. Nichts ist schwerer zu ertragen als Lügen, höchstens Mitleid. Also warten. Tröstliches fügte er dennoch hinzu: „Mit etwas Glück kannst du noch vier bis sechs Wochen mit erträglichen Schmerzen leben. Was dann kommt heißt Morphium, und wie lange das hilft, weiß der HERR allein.“ Interessant, in welchen Zeiträumen man denken lernt.

      Es ist Zeit, die letzte Bilanz zu ziehen. Freunde sind wir sechs Jahrzehnte und ein paar Monate dazu. Wir blieben es, auch als die Welten, in denen wir uns bewegten, immer verschiedener wurden. Dass Freundschaften den Einsturz einer Gesellschaftsordnung überdauern, kommt sicher auch heute noch vor. Doch geschlossen werden sie nach dem Nützlichkeitsprinzip, beendet ebenfalls. Dass unsere Freundschaft den Aufstieg des Einen und den Fall des Anderen überdauerte, dürfte einmalig sein oder zumindest beinahe. Bleib mir gewogen! Ich weiß, dass ich zeitweilig für mein Umfeld, meine Frau, meinen Sohn, auch für meine Schwiegertochter, diesen oder jenen Hauswirt, Nachbarn, Kollegen und auch für dich, ein schwieriger Fall war. Besonders dann, wenn ich mit mir selbst haderte. Und wann tat ich das nicht? Entschuldige, jetzt werde ich sentimental. Hören wir auf! Du hast mich schon verstanden und jetzt fange ich an mit der Geschichte meines Versagens.

      Nach der Umgestaltung 1989/​90 gab es in unserem teuren Vaterland schnell richtige Gewinner und richtige Verlierer. Klar, das ist schließlich das Ziel einer jeden Revolution. Wollte man etwas anderes, müsste man ja nicht revolutionieren. Aber die unten wollen hoch, die oben müssen deshalb runter. Anders geht es nicht. Das ist das Ziel wohlgemerkt. Diesmal allerdings verlief alles entgegen den logischen Revolutionsspielregeln. Gewinner wurden die Unbeteiligten, Verlierer die, die die Revolution in Gang gesetzt hatten. Nein, ganz gegen die Regeln ist das auch nicht! Richtig! Nur, wir hatten es wieder einmal vergessen.

      Ich gehöre, wie könnte es anders sein, zu den Verlierern. Nicht weil ich auf der falschen, sondern weil ich auf der richtigen Seite stand. Wie habe ich sie mit aller Kraft herbeigesehnt. Nein, nein, nicht diese „Friedliche Revolution“, die wir dann bekamen, sondern durchgreifende politische Veränderungen. Mehr nicht, weniger aber auch nicht. Eine Utopie, gewiss, deshalb bin ich über das, was kam, auch so traurig. Doch logisch war es schon, das, was kam. Jedes Kind ab der fünften Klasse in der DDR hätte es aufsagen können. Keine Theorie, keine Führung, kein Sieg! Punkt.

      Wir sahen nur, dass es so, wie es war, nicht weitergehen konnte. Mehr nicht.

      Und so gewinnt man keine Revolution, als Beteiligter nicht, auch keine friedliche. In der Revolutionstheorie Lenins soll das sogar so drinstehen, habe ich einmal gehört, falls ich mich recht erinnere. Weil es von dem war, musste es ja falsch sein, dachten wir damals. Gelernt haben wir es alle, geglaubt haben wir es nicht. Ihm nicht, dem schlauen kleinen Revolutionspraktiker, und unseren Lehrern auch nicht. Doch ab und zu beliebt es der Geschichte eben, sich im Kuriositätenkabinett zu bedienen. Wie haben wir über die These „von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ gestritten und auch gelacht. Nun wissen wir es, manchmal stimmt eben auch eine These über die gelacht wird.

      Entschuldige bitte, mein alter Freund, dass ich dich mit Allgemeinplätzen langweile. Die muss ich aber ausgraben, vor allem um mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Es muss doch Gründe dafür geben, dass ich, und nicht du, von einer Katastrophe in die nächste stolperte. Im Grunde meines Herzens habe ich dich ja manchmal um die Gunst des Schicksals, das man auch Glück nennt, beneidet. Dieses Glück hatte ich nie. Nur einmal, als ich Jana kennenlernte. Aber sonst? Du wurdest als Sonntagskind geboren, ich nicht! Und Sonntagskinder, davon bin ich überzeugt, sind von der Natur mit Genen ausgestattet, denen das Glück ein Leben lang die Treue hält. Zumindest wenn sie es nicht überstrapazieren. Alles, was du angefangen hast, gelang, was ich anpackte, ging schief. Aber klammert Glück allein schon die persönliche Verantwortung für einen selbst aus? Ich weiß es nicht!

      Hinter dieser Feststellung verbirgt sich kein Neid, nicht einmal ein winziger Vorwurf. Chancen sind im Leben nie gleich verteilt. Bei uns waren nur die Startbedingungen in etwa gleich. Bei mir vielleicht sogar noch etwas besser. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten wollte, dass ich keine Chancen gehabt hätte nach dieser Umgestaltung. Davor unbenommen. Nur, mir fehlte einfach das Talent, mich mit dem Schicksal zu verbünden. Ja, vielleicht fehlten mir außerdem der Ehrgeiz und die Fähigkeiten, meine Chancen zu erkennen und zu nutzen. Schwamm darüber, denn jetzt ist es zum Lamentieren zu spät. Lass uns also, bevor ich zum Eigentlichen komme, noch einen Blick zurückwerfen auf die Ausgangssituation.

      Nein, einen existentiellen Grund zum Revoltieren gab es eigentlich auch in der Endphase der DDR nicht. Niemand hatte Hunger im „real existierenden Sozialismus“. Brot war konstant sogar billiger als Getreide, Brötchen auch, und beides gab es immer. Stundenlang zur Arbeit pendeln musste auch niemand, weil die Neubaugebiete in der Nähe der Arbeitsplätze entstanden. Gemüse und Obst gab es ebenfalls. Na schön, aus heutiger Sicht gelten Rot- und Weißkohl, eine Apfelsorte und ein Dutzend Konserven nicht gerade als breit und tief gestaffeltes Obst- und Gemüsesortiment. Von der verfügbaren Menge je Verbraucher, Tonnage genannt, stimmte es schon, das Angebot. Klar, die innere Struktur! Aber die ist eine individuell empfundene Größe. Im sozialistischen Grundmodell weiter im Osten war das Niveau der DDR schon erstrebenswert. Hier dagegen mehr das unserer Brüder und Schwestern im Westen. Denn „das (die) im Dunkeln sieht man nicht“, schreibt wieder ein anderer Dichter, einer, der sicher auch bald vergessen sein wird.

      Klar, Devisen für Importe waren knapp im „real existierenden Sozialismus“ und über Schlamperei schwieg man besser und begründete es damit, dass Obst und Gemüse nun einmal in unseren Breiten bei Frost nicht wachsen. So als hätte sich der siebirische Dauerfrost mit dem Gesellschaftssystem