Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
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eines alten Kumpels aus Waldemar Henrys Schultagen begutachten wollten. Die Besichtigung muss erfreulich verlaufen sein, denn sie wurde ordentlich gefeiert. Auf der Rückfahrt musste ich mich jedenfalls um die „Unversehrtheit“ der hinteren Sitze in meinem Wartburg sorgen. Es lief aber alles gut ab. Nur das blöde Kichern der beiden brachte mich in Rage.

      Den 1. Weihnachtsfeiertag besuchte uns wieder meine Mutter, ohne dass es zu mehr als den üblichen kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Jana gekommen wäre. Mein Vater hatte dringend zu tun, ließ er uns ausrichten. Und am zweiten trafen dann wir uns. Auch das sollte ein langer Abschied werden! Einmal von unserer bereits traditionell zu nennenden Zweiten-Weihnachtsfeiertags-Begegnung. Zum anderen war es auch euer letzter Besuch in Wolfen Nord. Einige Wochen später hatte dieser Teil des Vaterlandes keine Verwendung mehr für mich. Die mir bekannte Welt zerbrach, die vor mir liegende verstand ich nicht und versuchte es dann bald auch nicht mehr, sie zu verstehen. Aber das ahnten an diesem Weihnachtstag weder du noch ich. Die Stimmung blieb, trotz aller Bemühungen von beiden Seiten, recht gedrückt. Weniger durch Jana und mich, denn wir ahnten nicht einmal, was uns persönlich bevorstand, als durch euch. Ihr wart ja schon mitten drin in dem allgemeinen Schlamassel, der besonders dich bis zur letzten Grenze fordern sollte. Trotzdem gelang es uns dann noch einmal, die schwarzen Wolken beiseite zu schieben und es wurde doch noch ein schönes Fest. Ja, unerforschlich sind des Herrn Wege.

      Es war in der dritten Juliwoche 1990. Die Währungsunion war gerade mal 14 Tage alt. Die Bundesrepublik hatte sich zuvor, mit Rückendeckung ihrer Verbündeten und der Schützenhilfe der frei gewählten Volkskammer der Noch-DDR, für den Anschluss und gegen einen Zusammenschluss beider Teile Deutschlands auf Augenhöhe entschieden. Mit weitreichenden Folgen. Damit wurde der Weg frei gemacht für den größten Coup in der Deutschen Geschichte nach der Umwandlung Ostpreußens vom Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum am 8. April 1525, in dessen Folge der gesamte dortige Kirchenbesitz an Fürstenhäuser säkularisiert wurde.

      Den mit einseitiger Geschichtsbetrachtung aufgewachsenen DDR-Bürgern sagte der Begriff Säkularisierung zwar genauso wenig wie Ostpreußen, dafür denen, die sich Investoren nannten, vielleicht schon. Zugreifen hieß es, denn „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Und dann kamen sie, die Glücksritter, wie Schmeißfliegen, die einen frischen Haufen Scheiße wittern. Jetzt setzte sie tatsächlich ein, die Revolution. Das Wort „friedlich“ wurde erst einige Zeit später von den Gutmenschen beigefügt und vorangestellt. Aus der Sicht der Profiteure ist das sogar unbedingt richtig. Jeder Zweite im Beitrittsgebiet allerdings verlor in der Folge dieser Ereignisse seinen Arbeitsplatz, seine Ausbildung oder seine Heimat, und wird das vielleicht etwas weniger friedlich im Gedächtnis behalten haben.

      In meiner und Janas Familie zum Beispiel traf es alle Angehörigen, obwohl niemand von uns der SED auch nur nahe gestanden hatte. Richtig so! Denn wir alle, der eine mehr, der andere etwas weniger, wollten ja die Freiheit. Und die bekamen wir, und andere auch! Jetzt bekam die Losung „jeder nach seinen Fähigkeiten“ eine völlig neue Bedeutung. Was wird danach kommen? Nicht mehr unser Problem! Uns wird es ja bald nicht mehr geben. Nur eins klingt mir noch in den Ohren, der Schlachtruf vom Leipziger Ring: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“ Ja, sie kam zu uns, die D-Mark, und wir gingen trotzdem, nur weniger freiwillig!

      Den Anfang bei der Arbeitslosigkeit machte, wie ich bereits andeutete, überraschend unser Sohn Waldemar Henry. An einem dieser hellen Sommerabende 1990 kam er mit hängendem Kopf nach Hause. In seiner Firma waren die Aufträge stark weggebrochen, hieß es. Die neue „vorläufige Geschäftsleitung“ versuchte das Unternehmen wieder marktfähig zu machen, versicherte der Chef. Deshalb hatte sich die neue Leitung für eines der Modelle entschieden, die die Statistik, vor allem mit Blick auf das Ausland, schöner färbten, am Faktischen aber nichts änderten. Es hieß „Kurzarbeit Null“ und bedeutete, der Arbeitslose tauchte nicht sofort in der Statistik auf. Geld bekam er auch, nur nicht von der Firma, sondern vom Steuerzahler. Arbeiten durften die Betroffenen nach diesem Modell nicht.

      Arbeitslosigkeit kannten wir ja aus der DDR-Zeit nicht. Beinahe hätte ich gesagt leider. Deshalb war uns auch nicht sofort klar, was das wirklich bedeutete. Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen in der Familie. Jana meinte, wenn es nur vorübergehend sei, dann wäre das ja nicht so schlimm. Die Lage würde sich schnell stabilisieren, dann ginge es richtig aufwärts hier im deutschen Osten. Das hat der Kanzler uns ja versprochen. Wir sollten uns an sein Wort von den „blühenden Landschaften“ erinnern. Das hatte sie tatsächlich so gemeint, wie sie es sagte. Sie ja! Ich wollte mich nicht aufregen, deshalb sagte ich ganz pragmatisch: „Junge, du bist doch Mitglied im vorläufigen Betriebsrat. Jedenfalls hast du es so erzählt. Da kannst du gar nicht entlassen werden. So steht es im Betriebsverfassungsgesetz, habe ich gehört. Du hättest es vielleicht einmal lesen sollen, wenn du dort schon mitmachen musst.“ Waldemar Henry sah mich mitleidig an. „Das habe ich, mein Alter, darauf kannst du Gift nehmen. Aber erstens bin ich nicht entlassen. ‚Kurzarbeit Null‘ heißt das Modell. Verstehst du nicht, stimmt es?“ – „Nein!“ Weiter sagte ich nichts. Waldemar Henry erklärte es mir. „Das ist eine neue Erfindung, die sie aus dem Westen mitgebracht haben. Ich bin entlassen, aber auch nicht. Ich brauche nicht mehr in die Firma zu gehen, bekomme aber trotzdem mein Geld. Ich erscheine nicht in der Arbeitslosenstatistik, bin aber arbeitslos. Kapiert? Wie lange das so geht, weiß ich nicht.“ Er sah deprimiert auf seine Fußspitzen.

      „Und das schluckst du?“ Ich brauste in meiner Naivität auf! Waldemar Henry begann laut zu lachen. „Du wirst sie schon noch kennenlernen, die neuen Herren, mein lieber Papa Heinrich.“ Was sollte ich darauf antworten? Ich schluckte wieder meinen Ärger hinunter und blieb still. Irgendwie stimmte es ja überein mit meinen heimlichen Befürchtungen. Währenddessen hatte Ilona gelangweilt einen kleinen Spiegel und einen Stift aus ihrer Beuteltasche genommen und zog die Konturen ihrer Lippen nach. „Das ist doch kein Drama, Leute“, sagte sie gelassen. „Solange er Kohle einsteckt, musst er sich doch nicht schinden, wenn es auch ohne das geht. Weißt du was“, wandte sie sich an Henry, „ich frage morgen unseren Chef, ob die vielleicht bei der Stadt auch so ein Modell in der Tasche haben. Wie sagtest du heißt es, ‚Kurzarbeit Null‘? Klingt nicht schlecht. Ich glaube, das wäre etwas für mich. Führen sie das auch bei uns ein, würde es mich sowieso als Erste treffen nach der Sozialauswahl. Kein Kind, kein Kegel, nicht einmal einen richtigen Mann. Einen ohne Job, ja. Außerdem bin ich vorlaut, sagt unser Boss. Da melde ich mich lieber gleich freiwillig! Knete abholen ohne Arbeit. Da gibt es Schlimmeres. Wir machen uns noch ein paar schöne Tage, bis …“, den Rest verschluckte sie.

      Da niemand antwortete, fragte sie nach einer Weile: „Was hältst du davon, mein arbeitsloser Hauptmieter?“ Waldemar Henry sah sie unsicher an. Es klang irgendwie kalt, mitfühlend jedenfalls nicht. Dann lachte sie. „Es ist ja nicht lebenslänglich. Gibt es keine Knete mehr, suchen wir uns eben was Neues, wo die Mauer doch jetzt weg ist. Ich denke, ich finde schon was. Wenn nicht hier, dann eben anderswo. Im Übrigen habe ich die Schnauze sowieso voll von dem allgemeinen Katastrophengeschwätz hier.“ Jana und ich sahen uns ratlos an. Was hätten wir den Beiden auch raten sollen?

      Der einzige, der scheinbar klaren Verstand behielt, war zu meiner großen Verblüffung der Betroffene selbst, unser Sohn Waldemar Henry. Vielleicht wollte er die Initiative in seiner Beziehung zurückgewinnen, vielleicht ahnte er auch mehr als er sagte. Jedenfalls sprach er sehr gelassen. So, als teile er uns mit, dass er jetzt in den Konsum fahren und Bier holen würde. „Ich habe auch die Schnauze voll von all dem, was jetzt hier im Osten vor sich geht.

      Genau wie du, mein Mäuschen! Immer mehr Schlipsmänner stiefeln in den Betrieben wie in ihrem Vorgarten rum. Sie spionieren und quatschen dumm. Das nennen sie beraten. Wer dagegen aufmuckt, fliegt! Die führen sich jetzt schon auf, als wären sie die neuen Herren. Gnade uns Gott, wenn die es werden sollten. Dann ist Deutschland wirklich einig Vaterland, nämlich das ihrige. Sie sind die Herren, wir die Knechte. Nein danke, mit mir nicht! Da kommt mir der de facto Rausschmiss gerade recht. Die alten Genossen waren schlimm, aber vor dem, was jetzt kommt, hilft uns kein Gott, kein höheres Wesen. Die werden nicht Ruhe geben, bis ihnen auch der letzte Nagel hier im Osten gehört.“ Ilona sah ihn merkwürdig spöttisch an, als ihr Lebensabschnittsgefährte seine Meinung