Im Malstrom. Jürgen Petry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Petry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960081487
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sei. Doch als ich in Janas entsetzte Augen sah, schwieg ich lieber. Außerdem war ich ja auch mitgerannt. Dann sagte Jana so leise, dass ich es kaum verstand: „Junge, was hast du vor? Unsere Familie bricht auseinander, merkst du das nicht?“ Waldemar Henry schwieg. Nach einer unendlich scheinenden Pause erklärte er uns gelassen, dass Opa Waldemar ihm empfohlen habe, lieber gleich in den Westen zu gehen, bevor der Massenansturm der Arbeitslosen einsetzt. „Genau das werde ich tun.

      Opa hat mir gesagt, dass er nach der Kriegsgefangenschaft zuerst ein paar Monate in Freudenbach im Siegerland gearbeitet hat. Dort hätte er auch eine Braut, Elli hieß sie wohl, gehabt. Das mit ihr konnte aber nichts werden, weil ihre Eltern gegen ihn waren und zu Hause seine Erna auf ihn wartete. Dass es eine Erna gab, wusste Elli aber nicht. Die sei zwar jetzt ein paar Jahrzehnte älter und verheiratet, doch er gehe ihr immer noch in ihrem früher so schönen Kopf herum, behauptet er. Das wisse er genau. Außerdem habe sie ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubt, es hätte ihm das Herz gebrochen, als ihre Eltern ihn damals rausgeworfen hatten. Er hat ihr schon geschrieben und sie um Hilfe für mich gebeten. Die wird sich für mich einsetzen, hundert pro, hat Opa gesagt.“ Als ich ihn misstrauisch ansah, ergänzte er: „Das heißt, gesagt hat er es anders, so mehr in der Altmännersprache, aber gemeint hat er es so, wie ich es sage. Gute Fachleute werden immer und überall gebraucht. Nur hier nicht, weil die aus dem Westen hier alles plattmachen wollen. Die Konkurrenz soll ‚vom Markt‘ genommen werden, nennen sie das ‚Plattmachen‘ heute. Je schneller, umso besser!“

      Waldemar Henry stand auf und ging hin und her. „Sobald die Antwort da ist, fahre ich und Ilona hole ich nach.“ Dann wandte er sich ihr direkt zu, die ihm bis jetzt mit nachdenklichem Gesichtsausdruck aber schweigend zugehört hatte. „Einverstanden, Mäuschen? So lange kannst du ja hier bei meinen Eltern bleiben.“ Mit uns vorher darüber zu sprechen, hielt er offenbar nicht für nötig.

      Nach dieser sehr bestimmt vorgetragenen Erklärung folgte erst einmal ein allgemeines Schweigen. Auch mir fiel kein überzeugendes Gegenargument ein. Nach einer halben Ewigkeit sprach schließlich das Mäuschen, eiskalt und bestimmend: „Schön, dass ich das jetzt auch erfahre.“ Waldemar Henry wurde verlegen und sagte, dass er ihr das alles heute im Bett habe erzählen wollen. „So! Wolltest du das? Und du glaubst, ich mache, was du mir da vorschlägst und bleib allein in deinem blöden Kinderbett und warte monatelang auf einen Arbeitslosen? Nein, mein Lieber! Mach du nur deins, lass dich nicht aufhalten. Für das Bett hast du ja Fräulein Faust. Ich komme schon zurecht. Morgen wickle ich erst mal meinen Job ab. Ich werde einfach nicht mehr hingehen. Die Stütze sollen sie mir überweisen. Schluss, aus! Viel Glück, Henry. Es war ja ganz schön mit dir, manchmal wenigstens. Aber die Zeiten haben sich geändert. Für ein hübsches Mädchen gibt es immer Chancen. Vorausgesetzt, sie ist ohne Ballast! Du verstehst, was ich meine?“ Das letzte kam mit blankem Hohn an. Damit stand sie auf, packte Spiegel und Lippenstift provozierend langsam in ihre Beuteltasche, zog ihren Mantel über, sagte: „Tschüss alle miteinander“, und verließ unsere Wohnung und unser Leben.

      Waldemar Henry war so getroffen, dass er zunächst nicht wusste, was er tun sollte. Erst rief er ihr ein paar Mal hinterher, war aber wohl doch zu stolz, um ihr nachzulaufen. Genützt hätte es sicher sowieso nichts, denn der Hinweis auf seine neue Stellung als Arbeitsloser ließ ja an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Jana und ich schwiegen. Den Fall mussten die jungen Leute schon untereinander klären. Ich war sowieso der Meinung, dass es besser für beide wäre, dass sie sich gleich noch hier trennten. Jana schwieg zunächst, dann sagte sie bedrückt: „Henry, wenn du fährst, packe ich dir deine Sachen. Rucksack oder doch lieber den Koffer? Hast du Geld?“ Er schüttelte mit dem Kopf. Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Dass er kein Geld hatte oder die Kofferfrage nicht sofort gelöst werden müsste. Doch er klärte uns schnell auf. „Wir müssen die Antwort von Opas früherer Elli abwarten.“ Dann ging er schwerfällig in sein einsam gewordenes Kinderzimmer.

      Was für ein Quatsch, dachte ich, Opas Uraltbraut wird sich bedanken, falls sie überhaupt antwortet. Ich sollte mich irren. Bereits zwei Tage später traf ein Telegramm ein. „Er kann kommen“, hieß es darin, sonst nichts. Einen weiteren Tag später fuhren Jana und ich unseren Sohn zum Bahnhof nach Leipzig. Waldemar Henrys Zug ging „8 Uhr 3 Minuten“. Den Abschied von ihm hatte ich mir zwar vorgestellt, manchmal sogar gewünscht, vor allem wegen seiner Ische und meinen Badegewohnheiten, aber eben doch nicht so abrupt, so endgültig. Jana weinte, Waldemar Henry war es peinlich, deshalb gab ich ihm nur die Hand. Auf einmal wurde mir klar, dass Jana und ich wieder allein sein würden. Das war zwar seit Langem mein geheimer Wunsch, aber jetzt, als es so weit war, kam mir plötzlich sogar unsere Wohnung groß und leer vor. Für lange Abschiedsszenen blieb keine Zeit. Wir waren auf den letzten Drücker eingetrudelt. Waldemar Henry stieg sofort ein, ich reichte ihm den Koffer nach oben und zwei Minuten später setzte sich der Zug Richtung Westen in Bewegung. Jana schluchzte an meiner Brust und ich sah in die Richtung, in die der Zug langsam verschwand. So etwas wie Trauer stieg in mir hoch. Nicht über Waldemar Henrys Abreise, sondern weil ich zu spüren glaubte, dass ein Riss durch unser Leben begonnen hatte. Dabei ahnte ich nicht einmal, dass Waldemar Henry lediglich so etwas wie die Vorhut war des in den Westen ziehenden Arbeitslosenheeres. Zwei Millionen sollten es bald sein. Die Pendler nicht mitgerechnet. Gedrückt fuhren wir nach Hause.

      Das erste Lebenszeichen von Waldemar Henry aus Freudenbach kam etwa drei Wochen später. Er teilte uns mit, dass die frühere Braut von Opa Waldemar ihr Wort gehalten habe. Sie hätte ihm geholfen. Als Interimslösung habe sie einen ansehnlichen Raum über ihrem Waschhaus für ihn frei gemacht. Dort könne er wohnen, bis er etwas gefunden hätte. Einen kleinen Kredit von 500 D-Mark zu acht Prozent Zinsen hätte sie ihm für das Nötigste auch gegeben. Sogar ungefragt, damit er zumindest die Miete an sie bezahlen konnte. Einen Tag später wären Waldemar Henry und Opas ehemalige Elli gemeinsam auf Arbeitssuche gegangen. Sie wusste sofort zu wem, denn gleich der erste Versuch sei erfolgreich verlaufen. Er hätte einen Job als Kraftfahrer und Transportarbeiter für 1200 D-Mark brutto in einem mittleren Baubetrieb im Nachbarort bekommen. Meier & Meier hieß die Firma. Viel sei das zwar nicht, aber sein neuer Chef habe ihm eine winzige, dafür bezahlbare Anderthalb-Raum-Dachgeschosswohnung bei einer Bekannten besorgt. Die wiederum habe ihm gleich ein paar Möbel überlassen, die er sogar auf Raten abzahlen könne. Alles in allem wären die Leute nett zu ihm und hilfsbereit auch. Sein Lebensziel sei das zwar alles nicht, aber für den Anfang hätte es schlechter kommen können. Er sei noch dabei, seine Dachgeschosswohnung vorzurichten. Aus Ellis über dem Waschhaus liegenden Raum sei er aber schon ausgezogen. Gewissermaßen lebe er jetzt auf einer Baustelle.

      Jetzt wäre er aber erst einmal untergebracht. Bald werde er sich trotzdem nach einem besseren Job mit mehr Kohle umhören. Vielleicht in seinem gelernten Beruf als Dreher. Falls das nicht klappe, wenigstens einen, bei dem er ein wenig schwarzarbeiten könne. Übrigens ersetze der Staat den Firmen für die ersten drei Monate die Lohnkosten, wenn sie einen rübergekommenen Ossi einstellten. Danach müsse er wohl ohnehin weitersehen. Über Ilona schrieb er kein Wort. Jana war glücklich, ich schüttelte über die letzte Mitteilung nur den Kopf.

      Von Ilona hörten wir bald etwas, allerdings zunächst nur indirekt. Die Umstände, unter denen das geschah, waren für mich allerdings mehr als unangenehm. Zufällig traf ich den Vater ihres früheren Freundes, Krause Franz, in der Kaufhalle. Wir kannten uns, wie man sich eben so kennt in einem Wohngebiet. Ausweichen konnte und wollte ich auch nicht. Franz allerdings begrüßte mich wie einen alten Freund und fragte mich übergangslos, was denn bei uns zwischen Ilona und Henry vorgefallen sei. Vor drei Wochen wäre sie spätabends verheult bei ihnen aufgetaucht und hätte weinend erzählte, dass sie bei uns rausgeflogen sei. Über die Gründe habe sie nicht sprechen wollen. Er, also Krause Franz, habe sie, als Vater ihres einstigen Verlobten, zwar umgehend vor die Türe setzen wollen. Etwas anderes hätte sie ja nicht verdient, so wie sie damals mit dem armen Jungen umgesprungen sei. Damals, als sie von ihm weg und zu unserem ins Bett gewechselt sei. Aber wer hört schon auf die Sprache der Vernunft? „Meine Alte“, erzählte er, immer wütender werdend, „und vor allem dieser dämliche grüne Blödian“, damit meinte er seinen Sohn, „freuten sich, dass sie wiedergekommen war und schwupp zog sie wieder bei uns ein. Na, Schwamm drüber, wer nicht hören will, muss eben fühlen.“

      Ich antwortete Krause Franz kurz und knapp, denn ich wollte ja mit ihm keine Feindschaft: