Irgendwie fand es Amelie schwierig, die Gefühle in ihrem Bauch als Quatsch anzusehen. Der Bauch gehörte doch zu ihr, denn sie konnte ihn sogar anfassen. Was man anfassen konnte, war doch auch wichtig.
Jedenfalls hatte der Vater sie neulich gewarnt, als sie an den heißen Ofen fassen wollte.
„Das ist heiß und tut weh an der Hand.“
Schmerzen sind Gefühle und in diesem Fall kamen die Gefühle vom heißen Ofen. Und den Ofen konnte Amelie anfassen, genauso wie ihren Bauch.
Oder gab es da einen Unterschied? So richtig begriffen hatte Amelie den Unterschied zwischen dem Bauch und dem Ofen noch nicht.
Daran konnte sie nichts ändern. Obwohl ihr der Zusammenhang zwischen Gefühlen und anfassen noch immer nicht klar war, wusste sie, die Dinge waren so, wie der Vater es sagte.
Er musste es wissen, denn er war erwachsen!
Manchmal leuchteten die Erklärungen der Erwachsenen Amelie einfach nicht ein. Der Bauch mit seinen komischen Empfindungen war jedenfalls für sie wichtig! Gerade wenn sie jemanden lieb hatte, wie ihren Bruder Franz, dann fand sie ihren Bauch sehr wichtig. Davon erzählte sie lieber niemand etwas, denn sie wusste nicht, ob sie damit richtig lag. Sie wollte einfach ihren Bauch ernst nehmen. Warum, konnte sie sich nicht erklären.
Mit Franz konnte Amelie schmusen, wenn ihr danach war, drückte sie ihn ganz fest. Mit den Eltern ging das irgendwie nicht. Sie waren oft so unnahbar, fast fremd. Der Schmerz in ihrem Bauch sagte Amlie, da stimmte etwas nicht.
Ob das an ihr lag?
Hatte sie etwas falsch gemacht?
Diese Fragen stellte sie sich oft und das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr, dass immer sie die Fehler machte. Sofort wurde ihr übel und in ihrem Bauch rumorte es gewaltig.
Bei Franz war das anders. Er war der Kleine. Er musste Vieles noch lernen. Amelie fand das eigenartig. denn Franz konnte ziemlichen Blödsinn verzapfen. Der dann, so meinte sie, keine Konsequenzen hatte.
Sie erinnerte sich genau. Als Franz noch ziemlich klein war. Ging er im Dorf über die Hauptstraße zu einer Blumenwiese und bestaunte die Blumen eingehend. Ob die Blumen mit ihm gesprochen hatten? Amelie überlegte kurz und schob den Gedanken an sprechende Blumen sofort weit weg. Sie erinnerte sich genau. So etwas konnte es überhaupt nicht geben.
Mutter hatte ihr die Sache vor kurzem erklärt. Sie hatte Amelie nämlich dabei beobachtet, wie sie im Garten mit dem großen Holzapfelbaum redete und ihn fragte, warum seine Äpfel viel zu hart und zu klein seien, um gegessen zu werden. Komisch, Amelie hatte den Eindruck, dass der Baum ihr antwortete. Er hatte ihr erklärt, dass seine Äpfel im Winter gut für die Vögel wären. Sie fanden unter dem Holzapfelbaum Nahrung für den Winter. Dafür waren die Holzäpfel gut, die die Menschen nur ungern aßen. Amelie musste sich wieder einmal geirrt haben. In solchen Angelegenheiten irrte sie sich oft! Die Mutter hatte sie wegen ihres Gesprächs mit dem Holzapfelbaum kopfschüttelnd mit sich gezogen.
„Gegenstände, Pflanzen und Tiere können auf Fragen von Menschen keine Antworten geben.“ Das hatte ihr auch der Vater beim letzten Mal bestätigt, als sie versuchte mit dem Schwein im Koben zu klären, warum es beim Fressen eine solche Riesensauerei veranstaltete.
Also versuchte Amelie keine Gespräche mehr mit Blumen, Bäumen, Tieren oder Fenstern. Nur mit ihrer Puppe redete sie noch, heimlich, wenn niemand etwas davon bemerken konnte!
Was hatte der Vater noch gesagt?
„Das gibt es nur im Märchen!“
Wie konnte sie erfahren, was in Märchen geschah? Ihre Oma war schon lange auf der Welt. Sie musste so etwas wissen. Vielleicht konnte sie Amelie sagen, was sie tun musste, um zu erfahren was in Märchen geschah.
Als sie ihre Oma in einem stillen Moment erwischte, konnte Amelie sie fragen, was in Märchen geschah. Ihre Oma erklärte ihr, dass sie in die Schule gehen müsse, um Lesen zu lernen. Dann könnte sie die Märchen, die in ihrem alten Märchenbuch aufgeschrieben waren, lesen.
Ihre Oma war lieb und gab ihr schon einmal ein dünnes Heft mit vielen bunten Bildern in dem das Märchen von Aschenputtel erzählt wurde. Zum Vorlesen hatte sie leider keine Zeit. Die Kühe im Stall mussten gefüttert und noch viele andere Dinge erledigt werden.
Und so kam es, dass Amelie es sich mit dem Heft hinter dem Haus unter der Mühle bequem machte. Sie betrachtete die Bilder in dem wunderschönen Märchenbuch. Dabei konnte sie herrlich träumen und sich selbst etwas zu den Bildern ausdenken. Dieses Mädchen mit den Holzschuhen und der alten Schürze sollte dasselbe sein, wie das Mädchen in dem wunderbaren weißen Kleid am Ende der Geschichte. Was die schwarzen Dinger unter den Bildern zu bedeuten hatten beschäftigte sie sehr.
Hoffentlich kann ich bald zur Schule gehen, dachte sich Amelie, denn sie hätte sehr gern gewusst, was in dem Heft über das hübsche Mädchen geschrieben stand.
Sie war unvermittelt eingeschlummert. Das Heft hing schlaff in ihrer Hand. Es sah aus, als wollte es jeden Moment abstürzen.
War Amelie wirklich eingeschlafen? Ihr Gefühl sagte ihr etwas völlig anderes. Als sie aufblickte bemerkte sie, dass sie in Hisian war, denn die Duse stand bereits vor ihr. Sie nahm Amelies Hand. „Duse? Woher kenne ich dich?“, fragte Amelie leise.
„Wir kennen uns von deinem letzten Besuch bei mir in Hisian. Heute ist es wieder einmal Zeit für eine neue Lektion.“
„Ich erinnere mich, dich habe ich das letzte Mal auf der Blumenwiese getroffen. Dort habe ich auch Maike, das liebe Reh kennengelernt. Wo ist denn Maike heute?“
„Sie wird gleich kommen. Sei nicht so ungeduldig.
Wir gehen zuerst einmal zu einem Platz, an dem ich dir erzählen kann, was du wissen musst. Die Welten zu verstehen ist nicht einfach.“ Die Duse schien mit sich selbst zu reden. Amelie schwebte neben ihr und verstand nicht so recht warum sie eine Lektion bekommen sollte.
Also schwebte sie neben der Duse gedankenverloren dahin und sie kamen so in einen Wald. Am Waldrand wartete Maike bereits auf sie. Amelie riss sich vor Freude von der Hand der Duse los und schwebte so schnell sie konnte zu dem Reh hinüber.
Sie hatte völlig vergessen, dass ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass Tiere nicht sprechen können.
Deshalb fragte sie Maike ganz selbstverständlich: „Wie geht es dir? Wohnst du in diesem Wald?“ Maike wiegte ihren Kopf. „Ich darf mit dir reisen. Das ist wunderschön. In diesem Wald wohne ich nicht. Ich bin hierhergekommen, um in deiner Nähe zu sein.
„Das ist wunderbar. Treffen wir uns nun auf jeder Reise nach Hisian wieder?“ Amelie strich dem Reh vor Freude über den Kopf.
„Nein leider nicht, denn auf anderen Reisen werden dich andere Tiere begleiten, die dir helfen die Welt und die Menschen besser zu verstehen.“ Maike neigte ihren Kopf zu Amelie hin, schmiegte ihn an ihre Schulter, so dass das weiche Fell seine trostvolle Wärme an Amelie weitergeben konnte.
Die Duse hatte Maike und Amelie lächelnd beobachtet und mahnte nun zur Eile.
„Wir müssen weiter, denn es bleibt uns nur wenig Zeit.
Also schwebten sie gemeinsam in den Wald hinein und erreichten so eine kleine Hütte.
„Wer wohnt denn in dieser Hütte?“ Amelie schaute fragend zur Duse hinauf.
„Heute wohne ich hier. Ich kann mit dir zu vielen Plätzen in Hisian gehen. Doch für deine heutige Lektion brauchen wir Bäume und Tiere.
Den ersten Teil der Lektion hast du schon ganz allein gelernt. Du hast bei der Begrüßung mit Maike wie selbstverständlich mit ihr gesprochen - eben wie mit einer Freundin. Die liebe Maike kannst du zu Hause in deinen Träumen rufen, wenn du dich einmal sehr einsam fühlst. Dann wirst du das warme, weiche Fell spüren. Dadurch wird es dir sofort viel besser gehen. Mit Maike kannst du alles besprechen, auch wenn sie dir viele Fragen nicht beantworten und dir nicht helfen kann. Maike ist immer lieb zu dir.
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