Als Amelie mit Nick gemeinsam in die Gasse einbog in der sie wohnte, überfiel sie eine Welle der Erleichterung. Am Ende der Straße, direkt neben dem Bauernhaus ihrer Eltern, leuchteten ihr die Flügel der Mühle entgegen. Manchmal wirkten sie bedrohlich. Wenn sie in der Dämmerung zu ihnen hinüberschaute, dann wirkten sie fast wie ein riesiger Drache. Amelie überlegte in solchen Momenten ob bei der Mühle einmal schaurige Dinge geschehen waren. Ein Frösteln von ihrem Inneren ausgehend, schüttelte sie bei diesen Gedanken. Wahrscheinlich hatte dieses Frösteln etwas zu bedeuten. Amelie wollte auf dem Weg nach Hause nicht weiter darüber nachdenken. Sie wollte diese Kälte abschütteln und schaute deshalb zur Sonne hinauf. Sofort veränderte sich ihr Gefühl. Ein heller Sonnenstrahl streifte einen Flügel der Mühle. In der Sonne schien die Mühle wie zur Abwehr von unheimlichen Wesen und Gedanken geschaffen zu sein. Die großen Flügel knarrten leise im Wind und wirkten jetzt auf Amelie wie schützende Arme.
Gerade hüpfte sie über eine kleine Pfütze auf ihrem Weg. Das weckte die Erinnerung an die Spiele nach einem Regen. Wenn die Kinder mit ihren Gummistiefeln über die Pfützen Weitspringen spielten. Amelie fand am Pfützenweitspringen großes Vergnügen. Die Straßen in ihrem Dorf waren unbefestigt und deshalb für diese Spiele sehr gut geeignet. Die nassen Kleider waren ein kleines Problem. Die Mutter schaute nicht erfreut, wenn Amelie nach einem Regenguss mit Gummistiefeln bekleidet auf die Straße ging. Sie wusste nach diesen Spielen kam sie als Dreckspatz nach Hause. Nick hatte im Augenblick des Sprungs über die Pfütze fester zugefasst. Amelie verkniff sich einen Aufschrei. Sie wollte ihren Retter ganz sicher nicht ärgern. Was hätte sie schon davon? Die Pfütze war einfach zu verlockend gewesen. Sie musste darüber springen.
Als sie zum Ende der Straße sah, hüpfte ihr Herz ein wenig. Sie schaute direkt auf ihr Elternhaus. Das Haus war über hundert Jahre alt und befand sich am Ende der engen Gasse. Viele Jahre war ihr Elternhaus das höchste in der Straße gewesen. Deshalb schlich sich Amelie manchmal auf den Dachboden, um am Giebelfenster weit hinaus in die schöne hügelige Landschaft zu schauen. Sie schaute hinaus auf Wälder, Wiesen, einen Teich und einen hohen Berg. In ihre Betrachtungen versunken schaute sie sehnsüchtig zu dem Berg hinüber. Er war sehr weit entfernt. Auf dem sicheren Dachboden überlegte Amelie manchmal ob sie zu diesem Berg wandern sollte. Er war sehr weit weg. Sie wäre sicher mehrere Tage unterwegs. In ihrem Bauch rumorte es schon wieder mächtig. Wo sollte sie bleiben, wenn es dunkel geworden war? Die Vorstellung auch die Nächte unterwegs sein zu müssen, brachte Amelie von dem Gedanken ab auf den Berg zu wandern. So in Gedanken versunken ging sie an Nicks Hand weiter.
In Gedanken versunken erreichte Nick mit Amelie das Haus ihrer Eltern. Er erzählte schnell wo er sie gefunden hatte.
Amelie schämte sich sehr. Wieso war sie nur so unvorsichtig gewesen? Was hatte sie sich nur dabei gedacht in dieses Gebäude einzusteigen und dann auch noch allein hinein zu gehen? Sie konnte sich selbst nicht mehr verstehen. Vorsichtig schaute sie in das Gesicht der Mutter. Was sie sah gefiel ihr überhaupt nicht. Die Mutter schaute fragend zu ihr herüber. Amelie spürte bei diesem Blick sofort einen Stich in ihrer Magengegend. Gerade als ihr übel zu werden drohte, gähnte sie herzhaft. Sie war von ihrer furchtbaren Verfehlung todmüde geworden. Plötzlich fühlte sie sich völlig kraftlos. Mit einem Ziehen in ihrem Bauch erinnerte sie sich an den Sturz in die Tiefe. Das schlechte Gewissen plagte sie fürchterlich. Was war ihr nur eingefallen einfach in dem verbotenen Gebäude in die Dunkelheit zu laufen?
Die Eltern schauten sie besorgt an und schickten sie, als sich schon wieder ein herzhaftes Gähnen auf ihr Gesicht schlich, in ihr Bett.Vollkommen matt fiel sie in ihr Bett und schlief ein.
Am folgenden Tag fragten sie die Eltern genauer was geschehen sei. Amelie konnte nur erzählen, dass sie ins Dunkel gestürzt sei. An etwas anderes konnte sie sich nicht erinnern.
Die anderen Mädchen, das erfuhr Amelie nun, waren schnell nach Hause gelaufen. Ohne Hilfe zu holen!
Sie hatten sich allesamt aus Angst vor Strafe zu Hause verschanzt.
Amelie hätte an diesem Tag leicht ihr Leben verlieren können. Sie war allein in dem für alle Kinder verbotenen Gebäude zurück geblieben. Der Eingang auf der Rückseite war normalerweise verschlossen.
An diesem Tag wurde die offene Tür für Amelie zum Verhängnis, denn sie stürzte vier Meter in die Tiefe.
Das Erstaunliche an dem Unfall war, dass sie nicht einmal eine Schramme davon getragen hatte. Alle in der Familie waren froh, dass nicht mehr passiert war und Amelie fühlte, dass sie den anderen Mädchen nicht böse sein durfte. Sie hatten Angst gehabt und sich deshalb nicht getraut, ihr zu helfen. Sie wusste nicht, warum das so klar für sie war. Aber sie fand es gut und konnte ihnen deshalb verzeihen.
Die Mädchen redeten kein Wort von den Spielen in dem dunklen, verbotenen Gebäude mit ihr. Das war für Amelie sehr seltsam. Sie konnte dieses Verhalten nicht verstehen. Wenn sie sich vorstellte, welche Gefühle sie geschüttelt hätten, konnte sie die Mädchen erst recht nicht verstehen. Ihr Gewissen hätte ihr keine Ruhe gelassen. Mit Sicherheit hätte sie nächtelang schlecht geschlafen. Wenn das Gewissen sie plagte, dann konnte das Amelie in ihre Träume verfolgen. Das war furchtbar.
Das Ziehen im Bauch, weil sie ein anderes Kind im Stich gelassen hatte, wollte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Schrecklich, das wäre nichts für ihre empfindsame Seele. Sie verstand die anderen Mädchen nicht.
Besondere Gespräche
Franz, Amelies Bruder, war nicht viel jünger als sie selbst. Er wurde kurz nach ihr geboren. Vom Augenblick seiner Geburt an war Amelie die Große und würde es immer bleiben.
Sie liebte Franz über alles.
Franz wirkte durch sein rundes Gesicht freundlich. Wenn er Amelie ansah, strahlten seine Augen und trafen sie so mitten ins Herz.
Sie beide sahen sich sehr ähnlich. Das wusste Amelie von der Nachbarin, weil diese sagte: „Man sieht sofort, dass ihr beide Geschwister seid.“
Vielleicht lag das daran, dass Franz genauso schwarze Haare hatte wie Amelie.
Franz Nase war klein. Amelie fand sie wunderschön. Ob ihre eigene Nase auch so schön war? Wenn die Nachbarin sagte, dass Amelie so aussah wie Franz, müsste das wohl so sein.
Ihre Augen waren jedoch völlig unterschiedlich. Franz Augen glänzten blau wie Bergseen in der Morgensonne und Amelie hatte Augen, die sich verwandeln konnten. Das sagte die Oma, wenn sie Amelie wieder einmal das Gesicht wusch. Ihre Augen konnten von grün zu braun wechseln und umgekehrt. Das sah sicher interessant aus.
Viel hübscher als heute fand Amelie sich auf den Fotos als sie ein Jahr alt war. Franz war noch nicht auf der Welt als diese Fotos gemacht wurden. Amelies Kopf schmückte eine wunderschöne Lockenpracht. Leider verschwand die Pracht, als die Haare zum ersten Mal geschnitten wurden. Amelie musste an einen Engel denken, wenn sie die Bilder anschaute.
Manchmal dachte sie beim Anschauen der Bilder auch an Tante Monika, die mit fünf Jahren gestorben war. Die traurige Geschichte von ihrem frühen Tod kannte Amelie von der Oma und der Mutter. Eigenartig war, dass Amelie die Tante nie kennengelernt hatte und doch liebt sie diese unbekannte Tante ganz besonders. Die Bilder von dem lächelnden, lockengeschmückten Mädchen hatten bei ihr einen starken Eindruck hinterlassen. Das Herz tat ihr bei der Betrachtung des Bildes weh und dieser Schmerz hatte sich tief in ihr manifestiert. Tante Monika war wunderschön. Genauso wie Amelie als Einjährige.
Das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr, dass es in Ordnung war, so ein engelsgleiches Wesen wie Tante Monika zu lieben.
Konnte sie sich wirklich auf ihre Gefühle verlassen? Amelie zweifelte manchmal daran, denn ihr Bauch war ganz besonders empfindlich.
Konnte sie sich auf das Gefühl in ihrem empfindlichen Bauch verlassen?
Die Erwachsenen sagten meist: