Und da ist er wieder. Unser Mann in den Lederschühchen. Die sind hin, denke ich, während ich gleichzeitig höre, dass er uns zum Frühstück in das Haus seiner Mutter einlädt. Schicksal, ich küsse dich! Was bist du für ein Zauberer der passenden Momente! Ein kleiner Eisenofen ist der unangefochtene Mittelpunkt des Raumes. Ein dreijähriger Junge schaut verschämt. Seine dunklen Augen fixieren uns. Eine Frau tritt ein, seine Mutter. Groß und schlank, mit langen raschelnden Röcken. Ein Tuch bedeckt ihren Kopf. Doch es verhüllt sie nicht. Hebt mehr noch ihre natürliche Schönheit hervor. Ein schlafendes Baby auf dem Arm. Sie steht, wir sitzen auf dem Boden. Vor uns ein großes handgefertigtes rundes Tablett aus Metall. Darauf Schüsseln und Schälchen voller Honig, Nüsse und Streichkäsearten. Wir sind bei Kurden zu Gast. Und fühlen uns so unglaublich wohl in ihrem Haus, in den Händen ihrer Freundlichkeit. Wechselseitig sind wir das Betrachtungsobjekt des jeweils anderen. Ja, wir sind uns fremd, und ja, wir sind uns bewusst, dass eine Begegnung alles ändert. Für mich ein Atem-Anhalte-Moment. Einer von denen, die mich in meinem Inneren umbauen.
Harakiri in Hakkari.
Beobachte ich ihn von Weitem, meine ich, einen Pianisten vor mir zu sehen. Seine Bewegungen gezielt und sparsam, seine Gesten liebevoll und sanft. Den schlanken Körper hat er in einen schwarzen Pulli und eine ebenso dunkle Cordhose gesteckt. Worte, augenscheinlich nicht sein Ding. Dafür Blicke um so mehr. Blicke, die tiefgehen und dann dort verweilen. Wie ist das möglich, wie funktioniert so etwas?
Wir sind im quasi letzten Ort der Türkei. Ganz im Osten, im Zipfel, an dem sich Syrien, der Iran, Irak und die Türkei die Stoffenden reichen. Keine Gegend unbedingt meiner ersten Wahl. Doch genau da, an diesen Orten scheinen die Wunder zu wohnen. Ist es, weil ich hier lechze nach jedem positiven Gedanken? Macht die Härte des Alltags die Menschen hier in ihrem Wesen sanftmütiger und wohlwollend? Irgendwie scheint es etwas mit dem Gleichgewicht der Kräfte zu tun zu haben. Kein Ort ist einfach nur schön oder lebensuntauglich. Die Medaille hat immer zwei Seiten. Das ist pure Logik. Und gut. Doch so weit bin ich noch nicht, als wir durch das vom Tauwetter tropfnasse Tal in Richtung Einsamkeit fahren. Außer türkischer Armeeposten mit Sandsack-Barrikaden scheint es hier wenig Leben zu geben. Was freue ich mich, als nach Kurve Nummer Unendlich der Ungewissheit nicht nur die Sonne hinter den Wolken hervorlugt, sondern am Hang die kleine Stadt sichtbar wird. Ich komme mir vor wie in meiner eigenen Fernsehberichterstattung. Als sähe ich mich selbst im TV. Der Ort Hakkari ist gezeichnet von vielerlei Angriffen, höre ich mich ins Mikro sprechen. Stacheldraht ersetzt hier die Gartenzwerg-Romantik. Militärbasis scheint der Untertitel des Stadtnamens zu sein. Das Schmelzwasser fließt in Rinnsalen nach unten, wir tuckern im kleinsten Gang entgegengesetzt nach oben. Auch hier winken uns die Kinder zu, wie überall. Nur wohin wir wollen ist uns nicht klar. Zwei Worte haben wir auf unserem Zettel stehen, Hakkari und Ali. In Hakkari sind wir nun, doch Alis scheint es hier so viele zu geben wie in Deutschland Meyers. Und trotzdem will es unser Schicksal scheinbar auch hier, dass wir unseren Ali finden. In einem Möbelladen sitzen wir so lange und trinken Tee, bis der Besitzer alle Alis des Orts abtelefoniert zu haben scheint. Einer von ihnen meinte, Gäste zu erwarten. Das ist er, unser Ali, der im schwarzen Pulli und Cordhose. Atil aus Nemeshir hat ihn uns als einen Freund empfohlen. Und so stehen wir mit einem Mal voreinander. Sprechenden Auges, erzählender Gesten, denn die Sprache des anderen kennen wir jeweils nicht. Zu seinem Haus führt er uns. Leo, nie so sicher bewacht wie hier. Direkt neben den auf Anschlag gehaltenen Maschinengewehren im Sandsack-Bunker. Die Kamera lasse ich lieber mal stecken. Will die wachenden Posten nicht provozieren. Wie sich das anfühlen mag, so in direkter Nachbarschaft mit Gewehrläufen zu wohnen? Wahrscheinlich ist auch hier Gewohnheit alles. Und jeder Tag der friedlich endet, ein guter Tag.
Atil scheint Ali am Telefon von unserem Kochprojekt erzählt zu haben. Doch wie nun weiter in unserer stummen Konversation? Alis Frau Cimen bereitet uns Tee, den ich wegen seiner Stärke nach dem vierten Glas zitternd ruhen lasse. Ihr kleines Kind wacht auf, beschaut die so anders aussehenden Besucher. Wieder eine Erkenntnis für mich. Überall wollen die Menschen einfach nur in Frieden ihr Familienglück leben. Wollen sehen, wie ihre Kinder aufwachsen, in der Hoffnung, dass es ein gutes Leben ist, in welches sie die Kleinen hineingebären.
Das Buch mit den Bildern unserer Familie hilft uns in dem sprachlosen Moment weiter. Zu zeigen, wer die eigenen Kinder sind, die Eltern und nahen Verwandten. Dieses Blättern zwischen den Seiten unserer Liebsten ist ein erster Brückenpfeiler des Vertrauens. Zwei weitere Asse haben wir noch im Ärmel. Da wäre zum einen unser Erklärbär-Text, der in jeder Sprache unserer geplanten Reiseländer erzählt, wer wir sind und warum wir mit den Menschen kochen wollen. Den Text lesen Ali und Cimen aufmerksam. Gleich darauf hebt sich ihr Blick und sie lächeln. Ein wenig mehr scheint nun klar zu sein. Doch was zu tun ist, bleibt weiter offen. Also Zeit für unser letztes Ass. Von unseren ersten Kochabenteuern schnitt Sten jeweils einen Videoclip zusammen. Das ist er, der Schlüssel zum Verstehen. Die bewegten Bilder bewegen Ali und Cimen. Sie freuen sich, ihren Freund Atil aus Kappadokien im Film zu sehen und verstehen, worum es geht. Entlang unseres Wegs mit den Menschen, denen wir begegnen, gemeinsam ihre Lieblingsrezepte zu kochen. Das pure Leben auf der Seidenstraße in unserer heutigen Zeit zusammenzutragen, um es miteinander in Verbindung zu bringen. Aktivität kommt in die Szene. Das Ehepaar berät sich, was sie kochen wollen und welche Zutaten wir hierfür benötigen. Dann geht es los, auch für uns. Vorbei an dem Sandsack-Bunker, hin zum nächsten Fleischer. Bei dem liegen die halben Schafe auf dem Hackklotz. Nun darf man sich das nicht vorstellen wie bei einem Fleischer in Deutschland. Hier geht es wirklich zur Sache. Da ist der Fleischer, was der Name sagt. Und der heißt nicht Herr Wurstscheibenverkäufer. Hier steht das Zerhacken großer Fleischteile im Vordergrund des Geschehens. Obendrein ist sein Laden Sammelstelle der Männer aus der Straße. Ein Tee für jeden, das ist Standard und gehört zum guten Ton. Nun noch zum Gemüsehändler, zwei aus der Angel gehobene Türen weiter. Frisch sieht alles aus. Zumal im Kontrast der klirrenden Ernsthaftigkeit des eisernen Militärstützpunktes. Das gelbe Licht der Glühlampe macht Auberginen noch kräftiger in ihrem Lila und Zucchini leuchtender in ihrem Grün. Zurück an den Herd, natürlich die Gewehrmündungen passierend, nicht ohne Leo zugezwinkert zu haben und uns schon mal unsere sicheren Schlafplätze in seinem Inneren vorstellend, geht es hoch in die Wohnung zum Kochen. Alper ist inzwischen eingetroffen. Ein guter Freund des Hauses, der Englisch spricht. Gekocht wird ganz normal am Herd, gegessen später auf dem Boden. Ein Tuch wird dazu ausgebreitet und festtagstafelgleich gedeckt. Diese Art des gemeinsamen Essens begegnete uns bei der kurdischen Familie in den Bergen zum erste Mal und wird von nun an Begleiter unseres Weges, bis in die Mongolei hinein.
Warum nur vertrauen uns die Leute in der Stadt? Wir Fremden wollten einen Ali treffen. Wäre das in einer so gebrandmarkten Gegend nicht Grund genug, misstrauisch zu sein? Ich überrasche mich selbst in meiner Angstfreiheit an diesem unruhegeplagten Pulverfass-Ort.
Höre ich in den Monaten danach von Luftangriffen in der Provinz Hakkari sehe ich nur eines vor mir, den stillen, warmherzigen Blick