GRIECHENLAND
Athen, Athen, wir fahren nach Athen.
Klirrende Kälte um mich herum. Meinen Fuß unter der Bettdecke hervorzuschieben, was für eine Überwindung. Licht fällt spärlich herein, hier in den hintersten Winkel eines Werkstatthofs. Zu freundlich der Mann gestern Abend, uns hier einen Stehplatz zu gönnen, zwischen den rostigen Ersatzteilen und halben Fahrzeugen, die auf ihre bessere Hälfte warten. Andernfalls hätten wir uns wohl für die Lufthaken-Variante entscheiden müssen. Denn Raum für unseren Leo, den gibt es hier einfach nicht. Athen, bist du nicht immer schweißig schwül, vom Smog der Abgase überzogen? Kollabieren die Reisenden hier nicht haufenweise in der Hitze deiner Häuserschluchten? Habe ich da irgendetwas verwechselt oder geht es gar um einen ganz anderen Ort? Die Kälte der Nacht hat meine Augen zu Bällen anschwellen lassen. Na, auch egal. Ziehe ich den Schal eben gleich übers ganze Gesicht. So muss ich mich nicht sehen und den anderen erspare ich mich auch gleich mit. Was da knackt, sind unsere Gelenke, die beim Gehen versuchen, in Form zu kommen. Doch die Temperaturen sind nicht wirklich abgestimmt auf die Art unserer Schmiermittel. Da lag offensichtlich ein Missverständnis vor, als ich die Fettung für Griechenland aus dem Regal zog. Okay, es ist, wie es ist. Und irgendwas ist immer. Trotz vereister Empfindungen funkelt etwas in mir, was nicht die Eiskristalle auf den Fahrzeugscheiben sind. Meine Vorfreude glitzert mich an. Ich bin in Athen, um die Akropolis zu sehen. Dieses Wort treibt mir Freudentränen in die Augen. Die ich sogleich als Eiszapfen abknicke und lutsche. Griechenland scheint mir das Land der großen Namen zu sein. Sparta, Olympia, Korinth und eben auch Athen mit seiner Akropolis. Geschichte pur. Als blättere ich in diesen Tagen in Europas dickem Geschichtsbuch. Sitze mittendrin, lese mich hier mal fest, bleibe mit meinem Blick an dem einen oder anderen Foto hängen. Und winde mich geschickt von Seite zu Seite. Obacht gebend, dabei nicht aus dem Buch herauszufallen. Heute nun also die Seite mit der Akropolis. Seit meiner Jugend bewegt mich der Gedanke, eines Tages den Berg zu erklimmen, auf dem das Bauwerk der lang verflossenen Zeit steht. In meinen Kindertagen sah ich Bilder eines Freundes der Familie, dem es trotz Zaun um die DDR gelungen war, eine Reise zu diesem unglaublichen Bauwerk anzutreten. Damals für mich unerreichbar, schürten die Erzählungen mein Feuer der Sehnsucht. Ich und die Akropolis. Wie so oft im Leben kommt alles anders als wir denken. So laufe ich nun also nicht in Lederriemen-Sandalen und wehenden dünnen Tüchern durch die Stadt. Doch ich bin hier und das ist gewaltig. Ein warmer Toast und heiße Schokolade schaffen es sogar, das Lächeln in meinem Gesicht zu installieren.
Und dann geht es los. Auf die Knie könnte ich fallen, wenn meine dicke Winterhose mich nicht daran hindern würde, jetzt, da die Sonne hinter den Schneewolken hervorgekrochen kommt. Stahlblau der Himmel. Blau meine Augen und glücklich. Vergessen die Kälte, die nächste nahende Wolke voller fetter Schneeflocken und weitere Sturmattacken verdrängt. Wir stehen im Schutz der Akropolis. Anhaben kann uns hier kaum etwas. Das Amphitheater am Fuße des Berges. Fußball könnte ich spielen, mit den unzählbar vielen schmuckbehauenen Steinen. Sie liegen im Gras, auf den Wegen, türmen sich zu kleinen Haufen, bilden Mäuerchen und Gassen. Was die wohl mal alles waren? Kapitelle, Treppenstufen, Hausfassaden oder Giebelenden. Ihre großen Momente scheinen vorbei, doch ihre Rätsel bleiben. Als schwatzten sie prahlend von den guten alten Zeiten liegen sie verschwörerisch aneinandergerückt.
Meter für Meter winden wir uns den Berg hinauf. Dem Eingangsportal zum Greifen nah. Meine Brust weitet sich, der kalte Atem fließt frei, mein Blick wird offener. Selbst die Augenschwellung zieht sich demütig zurück. Sie macht dem Staunen Platz, im Angesicht der goldgelb strahlenden Steine des Athena-Tempels. Nicht minder der Bann, in den mich der Nike-Tempel zieht. Fast möchte ich sagen, dass es kein besseres Wetter für uns an diesem Ort hätte geben können. Die Luft zum Schneiden klar. Das Sonnenlicht bricht sich an jedem noch so exakt abgestimmten Winkel, schenkt den versteinerten Frauenhüften schmeichelndes Licht und lässt die von empfindsamen Bildhauerhänden gemeißelten Gesichter in ihrem schönsten Profil erstrahlen.
Auf den ehemaligen Straßen wandeln wir umher, als trügen wir weiße weite Gewänder, philosophierend miteinander ins Gespräch vertieft. Ich glaube fast, einer von uns trüge einen Lorbeerkranz auf seinem Kopf. Wenige sind es, die sich an diesem Morgen mit uns tummeln. Uns ist es nur recht. So tanzt unsere Phantasie allein um uns herum und tritt niemand anderem auf die Füße. Ich bin da gewesen, werde ich ab jetzt sagen. Ich habe das Bild in mich aufgesogen, mein eigenes. Ich habe ein hauchdünnes Gefühl entwickelt, wie es ist, das Leben im Licht und Schatten der Akropolis. Meine Freude ist groß und angereichert mit Wissen und Fakten. Und doch bin ich meinen Nächten dankbar, die mir fast fünfzig Jahre lang einen immer gleichen Traum bescherten. Meinen Traum von Athen und der Akropolis. Hat der sich nun ausgeträumt? Schade eigentlich.
Im Leo liegt sicher verstaut der sorgsam in die Sprachen unserer Reiseroute übersetzte Erklärtext zu unserem Kochprojekt. Wir sind Ede und Sten. Wir kommen aus Deutschland und möchten mit dir zusammen dein Lieblingsrezept kochen…, steht da unter anderem geschrieben. Doch in echt möchten wir gerade gar nicht. Sonst meist kontaktfreudig und neugierig auf andere zugehend, erleben wir uns in diesen Tagen eher schweigsam in unsere dicken Winterjacken gehüllt. Wir schauen niemanden an. Wie uns im gleichem Maße vermutlich wenige Blicke streifen. Die Zeit wird kommen, so hoffen wir, in der sich der Panzer um uns öffnet und wir mit wildfremden Leuten an deren Tischen sitzen. Doch das ist hier kein gefaktes Kochprojekt. Das ist das pure Leben. Ohne Drehbuch und Regie. Obwohl es seinen ganz eigenen Spannungsbogen zu haben scheint. Warten wir es ab.
Hier gibt es auf jedem Fall ein leckeres Rezept von den besten gegrillten Tintenfischen, die wir genüsslich verzehren, an diesem so kalten Tag in Athen.
Fotos
Ich. Olympiasiegerin?
Wollte ich das mal werden? Olympiasiegerin? Wohl nicht. Und wenn, dann habe ich es vergessen. Obwohl. Sport gemacht habe ich in meiner Kindheit und Jugend täglich. Beim legendären Sportfest in Leipzig bin ich aufgetreten, nachdem ich vier Jahre lang dafür über Rhönräder balancierte, mit Männern des ASK, dem Armeesportklub der DDR, die mich in schwindelerregende Höhen warfen. Kosmonautin wollte ich gar nicht werden. Doch das Training mutet mir, mit Abstand betrachtet, ganz danach an. DDR-Meisterin mit einer Keulen-Übung bin ich geworden. Was für ein Glanzpunkt. Und viele Male Spartakiade-Siegerin. Mit Bällen, Seilen, Keulen und Reifen habe ich um mich geworfen. Mich dabei gedreht, gerollt, überschlagen, um dann, wie selbstverständlich, im nächsten Sprung mein Turngerät erneut aus der Luft zu angeln. ABBA war meine Lieblingsband in diesen Tagen. Zu ihrer Musik habe ich mich wie von allein bewegt. Sport war damals mein Leben. Mein Zeitvertreib, meine Zeit mit Freunden, mein Ausfliegen am Wochenende,