Mann und Frau und Reisehunger. Karsten Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karsten Meyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783946769118
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steigt. Noch im Bett reden wir darüber, dass es eben für alles den passenden Moment geben müsse und der nun hier gekommen sei. Silk Route Cooking startet in Istanbul, gemeinsam mit Veli und Özlem. Zwei Industriedesigner für Waschmaschinen, Radios, Toaster und Co. Sowie engagiert im Betreuen von Großprojekten, wie dem Bau eines kompletten Hotels mit allem Pi, Pa, Po. Nicht schlecht Herr Specht. Obwohl bei beiden der Samstag ein selbstverständlicher Arbeitstag ist, nehmen sie Urlaub, denn es wird gekocht.

      Los geht es mit dem Erklären. Was wir so vorhaben und warum das ganze Projekt. Die beiden hören aufmerksam zu, lieben unsere Idee und viel mehr noch, dass sie die ersten sind, mit denen wir kochen. Die Messlatte legen sie selbst dahin, wo sie mögen. Alles auf Anfang und alles auf Start: Lieblingsrezepte aus dem Hirn kramen, Einkaufsliste schreiben, Autoscheibe frei kratzen, Motor starten und ab durchs Winter-Nachmittags-Lichtermeer Istanbuls. Gemüse kaufen, vom ganz frischen, Fleisch dazu, getrocknete Kräuter, Reis, Zucker und vieles mehr. Die offenen Besorgungen auf unserem Zettel werden weniger, der Platz im Kofferraum auch. Es scheint, als wollten wir halb Istanbul verköstigen. Also doch gleich mal ganz nach oben gelegt, die Latte der Kochkunst. Zurückgekehrt erst mal einen Ouzo als Startschuss, während Özlem konzentriert mit ihrer Mutter telefoniert. Wie genau mache ich die Grundsubstanz hier? Und wie ist die Abfolge der Schritte da? Gekocht die halbe Nacht, gegessen in der zweiten Hälfte, fallen wir überglücklich satt am frühen Morgen in die Federn. Unsere Arbeit ist getan, die unserer Mägen noch lange nicht. Die Premiere ist gelungen. Der Anfang ist gemacht. Unser Kochprojekt beginnt zu leben. An einem Winternachmittag kühn zu Hause erdacht, wird es nun langsam real. Wenn wir beginnen, an uns und unser Projekt zu glauben, tun es die anderen garantiert auch. Es ist wie im richtigen Leben.

      

       Film

       Heiße Luft um die morbide Dame.

      Kappadokien. Das Land der Tuffstein-Architektur. Zerklüftete Höhlen, Wohnstätten, in den weichen Stein gehauen. Mitunter unterirdisch, als Schutzbehausungen der einfachen Leute. Zum Teil zwanzig Stockwerke tief. Wie riesenhafte Bienenhäuser sehen sie aus, auch wie Pilze oder miteinander schwatzende Penisse. Sorry. Wir streunen hindurch, besteigen sie, halten die Fingerspitzen für ein Foto an die passende Stelle. Und lachen dazu. Tauchen ein in den Nebel des Januars.

      Sobald wir die Küste verlassen haben, wo wir offensichtlich im Schutz der Meeresgötter standen, nahm er uns hämisch grinsend erneut in seine Fänge. Der Winter. Ohne Erbarmen zeigt er uns, wer hier, im Landesinneren der Türkei, das Sagen hat und wer sich, seiner Meinung nach, doch besser mal fügen sollte. Dass er dadurch Kulissen schafft, die ein Sommer kaum erzeugen kann, dessen ist er sich wiederum nicht bewusst. Doch tatsächlich ist er ein Künstler, der augenscheinlich um sein Können nicht weiß. Tuffsteinzipfel ragen unvermittelt aus Nebelseen heraus. Andernorts scheint das Gemisch aus Luft und Wassertropfen wie ein Hauch aus Samt auf den ruhenden Feldern zu liegen. Oder, jede Berührung vermeidend, einen Meter darüber zu schweben. Also doch ein Feinsinniger, der hart scheinen wollende Knabe. Ein Bild, beinahe zu kitschig, um es zu beschreiben, mag ich es trotzdem und behalte es für mich selbst.

      Kappadokien. Der Name war mir ein Begriff. Doch was wissen wir, wenn wir meinen, ein Wort schon einmal gehört zu haben? Nichts bis nicht viel. Ich zumindest. Ich will sehen, anfassen, erleben. Dann wird aus dem Begriff ein Wort, ein Bild, eine ganze Geschichte. Atil lernen wir hier kennen. Einen, der täglich einen Berg besteigen muss, um sich selbst im mindesten zu spüren. Jahrelang ein Ungestüm ist er nun Vater und Ehemann. Chef seiner eigenen Agentur. Eine für Reisende, die das Wagnis suchen, zumindest ein klein wenig.

      Sein heimliches kleines Großprojekt zeigt er uns abends im Licht der Taschenlampe. Ein Haus, wie eine gealterte Lady. Man sieht ihr den Glanz der glamourösen Zeiten noch an. Müll wegschaffen, Löcher stopfen, Treppen begehbar machen, war schon lange nicht mehr das Interesse der alten Dame. Sie bröckelt geräuschvoll vor sich hin. Doch Atil hat einen Traum. Er will sie neu einkleiden. Davor mal richtig waschen, parfümieren und frisch frisieren. Ein Gehstock wird nötig sein, vielleicht sogar ein fahrbarer Untersatz. Alles, alles will Atil ihr geben. Seiner alten Dame, dem Haus. In vier Wochen soll sie, äh es, frisch verputzt und renoviert sein. Klar, den Zeitplan bestimmt hier gerade nicht das Machbare. Die Saison sagt, wann das Agenturgebäude fertig zu sein hat. Und Saisonstart ist in einem Monat. Basta. Glaube versetzt Berge. Betrachte ich das Haus, glaube ich nicht daran, dass in vier Wochen ganze Treppenhäuser erneuert sind, Decken und Fußböden ihre klaffenden Löcher gegen Tritt- und Schallschutz eingetauscht haben, Strom fließt und Wasser mehr kann, als aus den Wänden zu tropfen. Schaue ich hingegen in Atils entschlossenes Gesicht, habe ich keinen Zweifel am Gelingen seines Vorhabens. Und wir? Erheben uns morgens im ersten Licht des Tages in die Lüfte. Rauchen gen Himmel eine Art Wasserpfeife mit unserem warmen Atem der Nacht, nicht geschmacklos, doch in jedem Fall ohne Apfelaroma. Aufstieg in einem der frühen bunten Vögel. Ballons um mich herum. Die Morgenthermik ist ihre Geliebte. Wie die Andacht zu einer zeitigen Sonntagsstunde. Der Pfarrer hält wortlos inne. Die Geste seiner ausgebreiteten Arme reicht aus. Mehr ist nicht nötig, um zu verstehen. Traue den Menschen mehr zu. Sie brauchen nicht alles als Brei vorverdaut in der Schüssel. Ihre eigene Geschichte verknüpft sich mit dem, was im Moment mit ihnen geschieht. Der Pfarrer der Lüfte hat es begriffen. Schweigend fahren wir, an Höhe gewinnend, winken Atils mondäner Dame zu und geben ihr den Segen der heißen Luft. Sekttrunken von der Taufzeremonie der Ballonfahrer rollen wir später in Atils Küche. Leo muss draußen bleiben. Atil, nicht nur Liebhaber der steinernen, bröckelnden Dame, mehr noch mein Verführungskünstler in der Welt des Kochens, ganz heimlich in Nemeshir in Kappadokien.

      

       360° Film

       Großkopftag.

      „Ich will dahin.“ drängelt Sten. Ja, ich auch, doch bei dem Wetter? „Ich will dahin!“ Hm, bin ja dabei, mich meinen Befürchtungen zu stellen und schenke dem Schicksal mein Vertrauen. Es hat mich nicht enttäuscht in den vergangenen Wochen. Also wird es wissen, was heute das Beste für uns ist. Mardin, die letzte Stadt vor der zwanzig Kilometer entfernten syrischen Grenze, hat mich in der vergangenen Nacht extrem unruhig schlafen lassen. Gekämpft wird in diesem Gebiet seit Monaten. Von MAN Fahrzeugen wurde uns erzählt, die das Militär hier fährt. Also Achtung, extreme Verwechslungsgefahr! Ich kann nur sagen, ein merkwürdigeres Gute Nacht habe ich uns noch nie gewünscht. Wissen wir denn, ob uns in der Dunkelheit nicht jemand einen Sprengsatz an den Leo bastelt? Wissen wir nicht. Folglich haben wir keine Ahnung, ob wir am nächsten Morgen gemeinsam aufwachen werden und wenn, wo wir dann sind. Nun, lange Rede, kurzer Sinn. Unser Schutzengel hat ganze Arbeit geleistet. Wir leben noch! Die Stadt unbeschadet hinter mir zu lassen, fühlt sich gut an. Auch wenn sie zu anderen Zeiten bestimmt ihren architektonischen Reiz hat. Mir war das hier ehrlich gesagt gerade völlig egal. Angst ist Angst und Gefahr ist Gefahr. Da merke ich einfach nur, wie ich an meinem Leben hänge. Also, nach vorn geschaut, den Bergen entgegen. Und eben da gibt es am Gipfel, dem Nemrut Dagi, unweit des Oberlaufs des Euphrats, im nördlichen Mesopotamien, die Götterköpfe, welche die griechische und persische Mythologie in der Zeit 69 bis 36 v. Chr. miteinander vereinen sollten. Sten will sie sehen. Ich auch. Und was sagt Leo zu den steilen, vereisten Straßen mit engen Kurven und schroffen Abhängen? Sten fährt. Ich halte den Mund. Verkralle mich in meinem Sitz. Als ob mir das was nützen würde, wenn wir abstürzen.

      Stopp, stopp, scheint ein Mann in dünnen Slippern mit Ledersohle zu rufen, doch wir nehmen