Mann und Frau und Reisehunger. Karsten Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karsten Meyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783946769118
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       Entenbratenstart mit Schmorkrautmunition.

      Punkt zwölf Uhr mittags am fünfundzwanzigsten Dezember. Ich ziehe die Jacke an, lege meinen Schal um den Hals, schlüpfe in die Winterstiefel, öffne die Tür, schließe sie sorgsam hinter mir. Nicht ohne meinen Blick noch einmal schweifen zu lassen. Darüber, was unsere Wohnung ist. Nur kurz, zu lange wäre gefährlich. Also, resolutes Tür Abschließen, Treppe runter, Fahrzeugtür auf und los. Wie los? Wohin? Zum Weihnachtsessen unserer Eltern? Das wäre es jetzt. Was würde ich darum geben. So ein Stück weit vertraute Normalität. Wie man das eben so macht am ersten Weihnachtsfeiertag in Deutschland. Einfach mal tun, was alle tun. Gibt es was dagegen einzuwenden? Normalsein hat was Anziehendes. Plötzlich. Besonders, wenn man selbst gerade vorhat, die Reise seines Lebens anzutreten. Und eben nicht gemütlich die Beine unter Papas Tisch steckt, um knusprigen Entenbraten mit Thüringer Klößen und ostpreußischem Schmorkraut zu verspeisen. Nein, das Restefrühstück muss reichen. Mal sehen, wann es an einer Tanke eine Bockwurst gibt. Die sind auch ganz lecker.

      Mein Vater stammt aus Ostpreußen, aus der Nähe Königsbergs, dem kleinen Ort Goldbach. Die Flucht am Ende des Krieges führte ihn in Richtung des Hauptreichs, wie die Ostpreußen das heutige Deutschland damals nannten. Die Familie wurde aufgegriffen und geriet für knapp drei Jahre in russische Gefangenschaft. Die ließ die Zeit lang und unsäglich hart werden, bevor mein Vater als Vogelfreier ohne Papiere in Suhl eintraf. Viel konnten er und seine Familie nicht mitnehmen aus ihrer Heimat, aus Goldbach. Doch eines hatten sie im Gepäck. Ihre Art zu kochen. Von seiner Mutter, einer Köchin auf einem Rittergut, erlernte es mein Vater. So wie zu Hause, war sein Satz dazu. Und mehr gab es auch gar nicht zu sagen. Wenn man erahnt, welche Verzweiflung er durchlebte, als sein Vater in Gefangenschaft als Himmelfahrtskommando Munition aufsammeln musste, die Familie ausgeraubt wurde, vor dem Verhungern stand und später seine Schwester an den Folgen mehrfacher Vergewaltigungen starb. Ich weiß, dass ich die Erlebnisse meines Vaters nie wirklich nachempfinden werden kann. Doch ich habe Hochachtung und Ehrfurcht vor seinem Schicksal. Ich mag es, wenn er erzählt, von damals und wie alles war. In den weiten, lichten Wäldern Ostpreußens, in denen er als kleiner Junge Heidelbeeren sammelte und abends verbotener Weise auf einem Trakehner Pferd nach Hause ritt. Allein, ohne Sattel und Zaumzeug. Halt fand er, indem er seine Hände in die Mähne krallte und die nackten Füße fest an den Körper des Pferdes presste. Mein Spielzeug war für lange Zeit die getrocknete Luftröhre einer Gans, in der eine Holzkugel hin und her rollte, höre ich ihn immer wieder sagen. Wie es ist, als flüchtendes Kind im Pferdewagen beschossen zu werden, wage ich mir nicht vorzustellen. Viel weniger noch, zu sehen, wie die Mitfahrenden im Fuhrwerk vor und hinter einem tödlich getroffen werden. Und ihn selbst nur der Wahnsinnsschrei seines Vaters vom Wagen riss, auf den, Augenblicke später, der Tod bringende Hagel niederging. Momente, in denen Wunden entstehen, deren Narben niemals ganz verheilen. Ein Leben lang nicht. Ein einziges Foto aus den vergangenen Tagen kenne ich von meinem Vater. Ein kleiner Junge mit strohblonden Haaren, der auf einer großen Wiese steht. Das gerettet Foto seiner Kindheit in Ostpreußen. Das Bild meines Vaters aus seinen jungen Tagen für immer in meinem Kopf.

      Zu gern sitze ich mit ihm zusammen. Beim Duft aus der Küche des nach seiner Art zubereiteten Schmorkrauts. Das ist für mich jedes Mal ein Blick in seine Vergangenheit. Es bringt mich seiner Kindheit näher. Und so habe ich mich nicht vertan, wenn das Buch über die Küchen der Seidenstraße mit der Geschichte meines Vaters beginnt. Denn meine Zuneigung zum Kochen wurde mir von meinem Vater überreicht. Nun mache ich mich selbst auf den Weg. Will sehen, wie man kocht und isst in den Seitenstraßen der Seidenstraße. Ich steige auf kein Pferd und bin auch nicht auf der Flucht. Doch mulmig ist mir zumute in unserer Minute der Abfahrt. Lange davon geträumt, viel darüber geredet, oft philosophiert und Situationen schon mal durchgespielt. Gepackt, organisiert, abgemeldet, sortiert und schlussendlich von allen verabschiedet. Geherzt, gedrückt, geweint, gelacht, gehofft, gewünscht. Und nun gegangen. Den Duft des Weihnachtsbratens in der Nase nur ahnend wird er Teil meiner Sehnsucht sein, bis ich heimkehre. Irgendwann.

       ITALIEN

       Schwarzer Espresso am Rande der Po-Ebene.

      Glitzernd sind wir umfangen von den Eisblumen an unserer atemverhangenen Scheibe. Wo sind wir? Was suchen wir hier? Und wer sind all die anderen? Stimmen vor dem Leo, unserem MAN LKW, der umgebaut jetzt unser Jahresdomizil sein soll. Kinderstimmen, Frauenrufe, Männerbrummen. Alles durcheinander, aufgeregt. Es scheint um Wichtiges zu gehen. Meine schlafwarme Hand reibt ein Guckloch in die Scheibe. Was ich sehe, sind funkelnde Kinderstiefel mit weißen Strumpfhosenbeinen darin. Oben geht es weiter mit einem pinkfarbenen Spitzenrock und der Blusterjacke, abgesteppt und mit Fellbesatz. So chic die Mädchen, nicht weniger aufreizend die Frauen. Trotz klirrender Kälte wird Dekolleté gezeigt. Stöckelabsätze werden gekonnt im Schneematsch platziert. Ob die das so wollten, als sie stolz im Schaufenster des Schuhladens posierten? Wer weiß schon, wer was wann will und denkt und hofft? Selbst als Schuh. Die Männer eher schlicht. Dunkle, gut geschnittene Jacke zu sorgsam gebügelter Hose. Doch die Haare. Die Haare, die liegen 1A. Da hat der Friseur aber wieder mal richtig gezaubert. Das kann ich sehen und das lässt sich sehen. Und wir? Liegen verknautscht im Bett und sind damit beschäftigt, uns zu wundern. Wollen die tatsächlich alle am frühen Morgen schon zum Weihnachtsfest mit der italienischen Großfamilie aufbrechen? Ganz offensichtlich. Sie wollen. Wir beide brauchen nicht lang, um die Kleiderfolge des Tages abzustimmen. Das anziehen, was ich gestern Abend ausgezogen habe, ist die simple Anweisung meines müden Hirns. Zerknittert und gefaltet steigen wir aus dem Leo. Nichts mit Glitzer und Stöckel und gegelter Frisur. Wir riechen, was unser Begehren weckt: frisch gebrühten Espresso. Eine simple Raststätte irgendwo hinter dem Brenner auf der italienischen Seite. Der graue Schneematsch macht aus frisch schmuddelig und der verhangene Himmel aus Euphorie verhaltene Stille.

      Doch der Duft fegt augenblicklich alle Zweifel dahin. Nie und niemals habe ich mich so gefreut, eine Tasse italienischen Espresso vor mir stehen zu haben. Der Geruch lässt mich lachen und zieht neuartige Falten in mein geschwollenes Gesicht. Soll er ruhig.

       Kopflos im Nebel Venedigs.

      Kochen? Hier? Nicht wir. Das machen andere für uns. Wir sind mal so was von noch überhaupt nicht in der Stimmung, auf Leute zuzugehen, um mit ihnen zu kochen. Kaum reden wir mit uns selbst. Geschweige denn, dass wir den Blick heben, um andere auf uns aufmerksam zu machen. Echt vertrackt, so eine Fahrt ins Ungewisse. Falls ich das bisher nicht gewusst haben sollte. Jetzt ist es mir klar. Schlagartig. Trotz Dezember-Nebel. Ganz schön diesig in der Waschküche Venedig. Die Hand vor Augen sehe ich nicht, als ich den rechten Fuß vor meinen linken setze. Vorsicht, Gondel, denke ich nur kurz und stehe direkt am Wasserrand. Glück gehabt, nicht reingefallen. Gutes Omen, sag ich stumm bei mir. Wie in Watte gepackt stehe ich da. Doch Mist, Watte ist nichts für den feuchten Nebel Venedigs. Futsch alle Opulenz und Würde. Wie ein pitschnasser Vogel in der Abenddämmerung sehe ich aus. Weiß nicht woher, weiß noch weniger wohin. Da ist die Küche Italiens das einzig Rettende für mich. Wer bitte hätte das gedacht? Dass ich mich einmal in die warme Kammer eines spärlich beleuchteten Restaurants flüchte, um mir einen Wein nach dem andern einzuhelfen? Vom Guten natürlich. Anders nicht. Der macht meine Gesichtszüge weicher und meine Gedanken gefälliger. Was wir essen? Oh, echt, ich weiß es nicht. Pasta? Pizza? Oder