Mann und Frau und Reisehunger. Karsten Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karsten Meyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783946769118
Скачать книгу
Super-Kakao, dort gibt es Gebäck an den Tischen. Jungen und Mädchen hocken selbstverständlich zusammen, quatschen, reden, erzählen miteinander. Ganz normal halt. Wie ich es mir denken würde, überall auf der Welt. Hier nun ist es was Besonderes, was Mutiges, was ganz Spezielles. Mit unserem Kommen bringen wir, in den Augen der Jugendlichen, ihrem Club-Café Glück. Und so tanzen wir ausgelassen, einander verbunden, alle miteinander. Und fühlen uns frei, frei, frei dabei, auch wenn ich aufpassen muss, dass mein Kopftuch nicht rutscht in der Stadt der Granatapfelromantik.

      

       Fotos

      Der Medicus, Titel eines Buches, dessen opulente Geschichten mir seit Jahren Bilder in den Kopf gebrannt haben. Nun gibt es den Film dazu. Nicht meine Bilder, sondern die eines deutschen Regisseurs. Ich sitze Wochen vor Antritt unserer geplanten großen Jahresreise im Kino und koste seit Langem wieder einmal aus dem Trog der Vorfreude und des Gefühls, nicht abwarten zu können. Von Sandstürmen gepeinigt zieht die Karawane im Film über Jahre dahin. Das England der frühen Tage mit seinen mitunter steifen Ideen hinter sich lassend, macht sich der junge Bader auf, um in Isfahan in Persien zum Medicus ausgebildet zu werden. Die Stadt – ein einziges Geflecht aus Torbögen und Hallen und Nischen und Gemächern. Der Schweiß der Tage scheint der Kitt der Lehmziegel zu sein. Die Gesichter, stets glänzend von den Perlen des eigenen Körpersafts, sind wach und offen, die Blicke neugierig und mutig. Eine Atmosphäre des Miteinander-Denkens, des Lehrens und Lernens, des Hinschauens, wohin zuvor noch niemand gesehen hat. Dieses zeitlose Sehnen nach Erkennen und Erfahren hat die Menschen in den Zeiten des Medicus getrieben und treibt auch mich immer wieder an. Auch wenn meine Erkenntnis die des Nicht-Wissens in immer tieferen Sphären ist. An diesem Abend im Kino weiß ich eins: Da will ich hin! In den Iran nach Isfahan! Wohl wissend, dass das Kino mir ganz andere Orte und Kulissen als das Stadtbild Isfahans verkauft. In diesem Augenblick bin ich käuflich und überlasse mich dem Reich meiner eigenen Phantasie: Ich sehe mich selbst in Tücher gehüllt, damit niemand einen Blick auf meine blonden Haare würfe. Ganz so, wie einst der Medicus sein fremdländisches Gesicht verbarg, um in der Stadt kein Aufsehen zu erregen. Wie meine Haut den goldgelben Ton der Lehmziegel reflektiert und selbst im Winter die vorherrschenden Farbtöne die warmen sind. Kein Einheitsgrau unserer mitteleuropäischen Wintertage.

      Und nun, Monate später? So viel Blau der Moscheen, soviel Weiß der Mosaike und ja, auch die warmen Lehmziegeltöne der Brücken haben ihren großflächigen Anteil, als ich in den Straßen von Isfahan stehe. Ich bin wahrhaftig hier. Habe es geschafft, innerhalb von drei Monaten, nicht Jahren, hierher zu gelangen. Mein Traum ist wahr geworden. Auch wenn keine beschauliche Karawanenstätte das erste ist, woran sich mein Blick heftet. Sondern das Vielstraßengeflecht einer lauten, schnellen, pulsierenden, 1,8 Millionen Einwohner zählenden Großstadt. Isfahan Ost und Nord und Süd und West. Isfahan Südost, Nordwest und so weiter sind jeweils nur Teile der Stadt. In ihrer Ausdehnung fast wie eigene Städte wirkend. Wieder einmal sind wir verabredet und wieder einmal wissen wir nicht, wo und mit wem. Die Wegbeschreibung klang am Telefon einfach. Doch das Suchen und Nichtfinden mit unserem Leo gleicht der Fahrt auf einer Achterbahn. Überall blinkt und leuchtet es, überall sind Entscheidungen zum Abbiegen oder lieber doch nicht, in Millisekunden zu fällen, werden Richtungen nur in Farsi geschrieben – und am Ende haben wir so wieder einmal keine Chance. Die rasenden Perser machen uns mit ihrer sprunghaften Fahrweise halb verrückt. Von einem Schreckmoment fallen wir in die nächste Beinah-Ohnmacht. Uns bleibt nur eins, so meinen wir, und entschließen uns zur Opossum-Taktik. Einfach nicht mehr bewegen und abwarten, was passiert. Außer dem Klicken der Warnblinkanlage im Rhythmus unserer gestressten Herzen geschieht nach unserem Stopp am Straßenrand erst mal nichts. Also, in den nächsten Laden gehen, einem Mann darin wortlos, da sprachlos, das Telefon ans Ohr drücken und darauf hoffen, dass die Stimme am anderen Ende danach fragt, wo genau sich der Ort befindet, an welchem jenem Mann das Telefon ans Ohr gepresst wird. Weiter darauf zu vertrauen, dass irgendwann irgendwer diesen Wegweisungen und Ortsbestimmungen einen Punkt zuordnen kann und man uns dort findet. Der eine Teil in uns besteht aus Hoffnung, der andere aus Vertrauen. Und Geduld. Die sitzt vorn im Fahrerhaus und hält ihre beiden Kumpane bei Laune. So routiniert macht sie das inzwischen. Wir merken kaum etwas davon und harren einfach der Personen, die da vielleicht irgendwann kommen. Kein Aktionismus treibt uns mehr, eine sinnfreie Handlung zu vollführen, weil man ja was tun müsse. Kein „Wie lange dauert das denn?“ zischt durch unsere Leo-Kabine. Spaß haben wir am Beobachten der nächtlichen Straßenszenen. Ein Arzt scheint seinen Job in einem der nahen Häuser zu verrichten. Wahrscheinlich ist die Nachtpraxis sein Tagesgeschäft. Und so halten in verlässlichem Rhythmus und Abstand Autos vor ebendiesem Haus. Besorgte Mütter steigen aus. Männer, das kranke Kind auf dem Arm tragend. Die Sorge ist selbst unter dem schwarzen Tschador zu sehen, so sehr überträgt sie sich auf Haltung und Gang der Mütter. Zurück kommen sie eiligen Schritts, in einer anderen Tür verschwindend, wahrscheinlich der Apotheke. Hell erleuchtet ist das hier alles nicht gerade. Alle sind es gewöhnt. So fahren manche Autos gleich ganz ohne Licht vor. Männer springen nur kurz aus dem Wagen, um mit der Medizin im Beutelchen sogleich zu verschwinden. Wie vertraut einem ein Ort wird, wenn man mal mehr als eine Eiskugellänge an ihm verweilt. Den Polizisten der Straße kennen wir nun schon. Der versucht, das absolute Halteverbot durchzusetzen. Nur leider hat er mit uns einen so gewaltig Verstoßenden, dass ihm bei all den Kleinwagen die Argumente ausgehen. Wohin er uns schicken soll, weiß er auch nicht. Also gibt er nicht auf, aber nach. Busse unternehmen den Versuch, vor Leo in eine Haltestelle einzubiegen. Ein vergebliches Unterfangen. Leo ist zu groß und die Busse zu ungelenk. Da bleibt den Leuten nichts übrig, als im rasenden Verkehr das Weite zu suchen. Das alles in der Nacht und das alles im gleichförmigen Klick-Takt der Warnblinkanlage. Alles und alle scheinen der unausgesprochenen Anweisung zu folgen: Nach jedem Klicken der Warnblinkanlage bitte eine Bewegung vollführen.

      So auch Mostafa, der wie vom Himmel gefallen mit einem Mal vor uns landet. Wir kennen einander nicht. Doch unser Leo, der ist Indiz genug, dass wir diejenigen sind, nach denen er sucht. Mostafa spricht deutsch und ist selbst gerade zu Besuch in der Heimat seiner Kindheit, Jugend und seines Lebens als junger Mann.

      Mostafa lebt seit Jahrzehnten in Deutschland, hat das Alter der Rentenbezüge erreicht und liebt wenige Dinge mehr als seinen kleinen Garten in Köln. Bis nach Isfahan mussten wir fahren, um Mostafa aus Köln zu treffen. Das Leben hat schon einen eigenwilligen Sinn für Humor. Und wer ist nun wieder Mostafa? Der Vater von Erfane. Sie ist Ärztin in Jena und eine Freundin von Haleh und Hassan, dem Anästhesisten. Über die beiden kamen wir zu Ali Reza und später zu Dr. Ali, dem Vater Hassans. Ich werde des Knüpfens und Endfitzens des engmaschigen Netzes nicht müde, dessen Knotenpunkte der Zufall und dessen Verbindungslinien die Offenheit dem Unerwarteten gegenüber sind. In Isfahan steht eine Hochzeit auf dem Plan. Zu diesem Anlass ist Onkel Mostafa aus Deutschland angereist und auch wir sollen kommen. Einfach so. Ohne, dass uns hier auch nur irgendjemand kennen würde. Doch Gäste von weit her sind in jedem Fall ein gutes Omen und damit willkommen. So ist das hier im Iran. Da denkt keiner: Oh, noch zwei Esser mehr. Und hoffentlich bleiben die nicht so lange. Und überhaupt, wir kennen die ja gar nicht. Im Iran ist das anders. Egal wohin wir kommen, umfängt uns das Gefühl, gewollt und geladen zu sein. Die Menschen freuen sich, dass Fremde ihr Land bereisen. Und bitte, bitte erzählt draußen in der Welt, dass wir gute Menschen sind, ist ihr so oft wiederholter Wunsch an uns. Erfane in Deutschland begleitet uns in diesen Tag in Gedanken auf Schritt und Tritt. Jede Nachricht aus ihrer Heimat saugt sie auf und lässt die Sehnsucht und das Heimweh in ihr erblühen. Dreizehn Jahre war sie alt, als es in ihrer Familie hieß, wir machen Urlaub in Deutschland. Also gut, Urlaub in Deutschland. Tschüss Iran, bis in drei Wochen dann, dachte sich das junge Mädchen. Doch nach einundzwanzig Tagen machten die Eltern keine Anstalten, die Koffer für den Rückflug zu packen. Nein, ganz im Gegenteil. Pack deinen Koffer aus, war der Satz, welcher Erfane ins Grübeln brachte. Und mehr noch der nächste: Ab Montag gehst du hier in die Schule. Sie verstand ihre Eltern nicht mehr und die ganze Welt gleich