Das Leben sein lassen. Thilo Gunter Bechstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thilo Gunter Bechstein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783961451401
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      „Als sie mir dieses Kärtchen gab, habe ich mich darüber als ein Zeichen ihrer Zuwendung gefreut: ‚… das Leben sein lassen!‘. Dass es mehr ist als das, erfahre ich jetzt. Ich ahne auch, dass du dahinter steckst, wie üblich, und glaube mir, ich bin dankbar dafür. Oft vergesse ich dich, bin von dir vollkommen abgeschnitten, doch dann merke ich irgendwie: Du bist da, du bist bei mir, meine Seele.“

      „Das bin ich in der Tat und es wird der Moment für dich kommen, in dem du dich von mir nicht mehr unterscheiden musst. Im Augenblick des Eins-Seins, in dem du dich selbst als deine Seele erkennst und fühlst, weißt du, wer du wirklich bist. Unser Dialog ist ein Übergangsstadium, das durch deine Akzeptanz ermöglicht wird, eine Seele zu haben. In der vollkommenen Gewissheit deiner selbst ist dir beschieden, diese Seele zu sein. Du wirst dann in deiner Körperlichkeit, in deinem Dasein zum Ausdruck dieser Seele und bringst Liebe und Licht in die Welt, ohne etwas tun zu müssen. Dann ist die Seele, die du bist, nicht länger ‚deine‘ Seele. Du erfährst dich als untrennbarer Teil des Universums, des göttlichen Geistes hinter allen Formen.

      Das ist kein Akt des Verstehens, sondern eine Erfahrung des fühlenden Erkennens jenseits des Verstands. Solange dich dein Verstand beherrscht, kann dieses Erkennen nicht stattfinden. Doch du bist auf einem guten Weg. Überlass dich ihm und sieh, was passiert.“

      Ich fühle, wie sich eine dankbare Zustimmung in mir ausbreitet. Rings das lärmende Treiben und in mir der Frieden. Er vermittelt mir, dass jede Eile unnötig, jede Sorge überflüssig ist. Das Leben sein lassen, das ist die Wahrheit. Vielleicht ist es auch das Motto für meinen Weg. Langsam schiebe ich mein vollgepacktes Fahrrad über den Parkplatz. Da ist eine gute Stelle, ein Lampenmast, an dem ich das Rad mit dem Seilschloss sichern kann.

      In einem Textilgeschäft kaufe ich noch einen Baumwollpulli, ein Sweatshirt, das ich beim Fahren gegen den Wind anziehen will. Mit dem kurzärmeligen T-Shirt ist es mir trotz meiner Weste zu kalt.

      Ein Stück rechts von mir sehe ich eine Bäckerei und ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es bereits Mittagszeit ist. Ein Kaffee tut mir jetzt gut und die Butterbrezel dazu auch. Das heißt, ich habe nur die Brezel gekauft und eine Butterportion aus meinen Vorräten herausgefischt, die ich mit dem Klappmesser auftrage. Die Brezel schmeckt, auch wenn sie ein wenig zäh erscheint. Dass ich bei dieser Aktion mein schönes korsisches Klappmesser auf der Bank liegen lasse, fällt mir erst am Abend auf.

       Was mir der Weg bedeutet

      Nach Würzburg sind es noch fünfundfünfzig Kilometer laut Wegweiser des Main-Werra-Radwegs, den ich jetzt befahre.

      Immerhin versuche ich, mich nicht selbst anzutreiben, sondern gelassen zu bleiben. Das bedeutet, das Fahren zu genießen, mich an meiner Kraft zu freuen, mit der ich mich vorwärts bewege und tief und bewusst zu atmen. Dabei nehme ich die wunderbare Landschaft wahr und in mich auf, durch die mich mein Weg führt.

      Ich fahre nicht mehr, ich überlasse mich dem Fahren und bin deshalb frei von jedem Druck, etwas erreichen zu müssen. Das ist schon ein angenehmer Zustand, den ich aber nur eine gewisse Zeit aufrechterhalten und genießen kann. Dann kommt unweigerlich der Moment, in dem ich das Verbunden-Sein durch die Ablenkungen wieder verliere, mit denen mich mein Verstand bombardiert:

      „Bist du richtig? Frag doch lieber mal nach! Schau mal in die Karte! Wie weit wird es noch sein? Bist du rechtzeitig in Würzburg?“

      „Ja, selbstverständlich bin ich rechtzeitig in Würzburg.“

      Ich beginne zu verstehen, dass jede Zeit die rechte Zeit ist, wenn ich sie akzeptiere. Außerdem, heute ist erst Freitag und die Supermärkte haben bis zwanzig Uhr geöffnet, sodass ich sogar noch einkaufen kann. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Durch das Internet habe ich bereits von dem kleinen Zeltplatz des Würzburger Kanu-Klubs erfahren. Da ich keinen Stadtplan habe, versuche ich, mich an Wegweisern und Übersichtstafeln zu orientieren. Auf dem Fahrradweg werde ich von einem gut bepackten Radwanderer mit Tochter überholt. Ich frage die beiden nach dem Zeltplatz und es stellt sich heraus, dass sie auch dahin wollen. Da hänge ich mich einfach dran und mein Problem ist gelöst. So einfach ist es, mit dem Strom des Lebens zu schwimmen.

      Der Zeltplatz ist ein kleiner, aber feiner Platz direkt am Main. Ein Teil des Platzes ist für Dauercamper mit Wohnwagen reserviert. Auf der großen Wiese stehen schon einige Zelte. Ich suche mir einen Platz mit Blick auf den Main. Neben mir kampiert ein Vater mit seinen Kindern, ein Junge und ein Mädchen, sechs und zehn Jahre. Er ist sehr kommunikativ und wir kommen schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es ein verlassener Vater ist, der jetzt seine Kinder für ein paar Urlaubstage von der Mutter abgeholt hat. Er vertraut mir an, dass es ihn noch immer schmerzt, von ihnen getrennt leben zu müssen und wie sehr er das Zusammensein mit ihnen während dieser kurzen Urlaubstage genießt.

      Ich stelle mein Zelt auf und zahle meine Übernachtungsgebühr beim Zeltplatzwart. Bei ihm kaufe ich auch noch ein Bier. Er bietet mir eine Abendmahlzeit an, die ich jedoch dankend ablehne. Es gibt einen Supermarkt, der nicht leicht zu finden ist und zu dem ich durch die halbe Stadt fahren muss. Dort kaufe ich ein paar Lebensmittel ein. Ich nehme auch eine Kinderluftmatratze mit, die aber bereits beim Auspacken ein Loch hat. Dummerweise habe ich keinen Kassenzettel mitgenommen. So werde ich also wieder nur auf meiner Schaumgummimatte schlafen.

      Als Abendessen gibt es Kartoffeln und Quark mit frischen Kräutern von der Wiese. Eine Weile sitze ich noch draußen und schaue auf den ruhig dahinfließenden Main, schwatze noch ein bisschen mit dem Nachbarn. Ich fühle Zufriedenheit in mir. Es gibt nichts, was ich mir jetzt noch gewünscht hätte. Ich lobe mich dafür, den Daunenschlafsack mitgenommen zu haben, denn ich merke schon, dass auch heute die Nacht wieder ziemlich kalt wird. Die dreiundachtzig Kilometer in den Beinen lassen mich schnell müde werden. Bald nach dem Dunkelwerden krieche ich in mein Zelt, in dem ich wunderbar einschlafe.

      Die Sonne steht am nächsten Morgen an einem makellos blauen Himmel. Als erstes nehme ich mir meine Beine vor, die ich mit einem Latschenkiefern-Gel kräftig durch massiere, um die Muskelverhärtungen zu lockern, was ziemlich schmerzt. Dabei komme ich mit Muskelpartien in den Oberschenkeln und sogar im Gesäß in Berührung, die mir sonst nie aufgefallen sind. Ich knete sie weidlich durch und kann spüren, wie sich die Verhärtungen lösen. Das sollte mir helfen, auch die heutige Tagesetappe ohne Konditionsprobleme zu bewältigen.

      Nun nehme ich mir die Zeit, mit dem gepäckfreien Rad über den Main zu fahren und ein wenig von der altehrwürdigen Stadt zu sehen. Ich steuere erneut den Supermarkt an mit dem festen Vorsatz, mir endlich eine vernünftige Isomatte zu kaufen, die den noch vor mir liegenden, größten Teil meiner Reise überstehen soll. Die finde ich tatsächlich nach einigem Suchen in dem schwer überschaubaren Angebot dieses Riesenmarktes. Die selbstaufblasende Matte ist in der Länge zusammenlegbar, sodass ich das handlich leichte Paket unter dem Schlafsack in der hinteren Packtasche verstauen kann. Jetzt bin ich perfekt ausgerüstet und kann ziemlich spät am Vormittag meine Weiterreise antreten.

      Sie führt zunächst nach Ochsenfurth. Es gibt so viele hübsche Städte mit gut erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtkernen, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Ochsenfurth ist so eine Stadt und ich freue mich, dass ich sie kennenlerne. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich bereits in Bayern bin, ist das jetzt unübersehbar. Die Menschen in Trachtenkleidung, das Weißbier auf den Tischen und die frischen Weißwürste im Angebot der kleinen Schänke, an der ich Halt mache, weisen mich darauf hin. Dem verlockenden Angebot kann ich nicht widerstehen und bestelle mir die Weißwürste mit einem Hefeweizen. Sie schmecken mit dem süßen Senf und der Brezel köstlich und das kalte Weißbier vollendet den Genuss. Ich blicke in fröhliche Gesichter in sonntäglicher Kleidung, freue mich über die bunten Trachten. Hier könnte ich durchaus noch eine Weile bleiben, doch ich ermahne mich zur Disziplin und radle durch den Stadtkern weiter in Richtung Aub.

      Auch nach Aub führt ein Radweg, der „MTF8“. So jedenfalls steht es auf den Hinweisschildern und in meiner Karte. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das: Main-Tauber-Fränkischer Rad-Achter. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Bezeichnung fantasievoll oder sehr einfältig finden soll. Ich freue mich aber über die guten Orientierungsmöglichkeiten anhand der Beschilderung und bin alsbald in