Das Leben sein lassen. Thilo Gunter Bechstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thilo Gunter Bechstein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783961451401
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Bad Neustadt. Dort angekommen, schiebe ich mein Rad durch den historischen Stadtkern und freue mich über den großen Marktplatz mit den gepflegten Bürgerhäusern. In einem schönen Café am Rand des Marktes such ich mir einen Platz unter einem Sonnenschirm und gönne mir ein Stück Erdbeertorte und einen großen Pott Kaffee.

      Das ist auch die Gelegenheit, über das Ziel meiner heutigen Etappe nachzudenken. Das gute Wetter fordert mich ja geradezu zum Campen heraus. Ich habe große Lust, im Zelt zu schlafen. Allerdings wünsche ich mir für heute eine Dusche und ein Abendessen und das bekomme ich am einfachsten auf einem Campingplatz. Dafür noch bis Würzburg zu fahren, der nächsten Camping-Möglichkeit an meiner Route, erscheint mir etwas zu weit. Dazwischen gibt es an der Strecke aber keinen Campingplatz, jedenfalls nach den mir verfügbaren Informationen. Der nächste liegt in Bad Kissingen. Kurz entschlossen ändere ich ein wenig meinen Streckenplan und biege kurz hinter Bad Neustadt in das Tal der Fränkischen Saale ein, durch das ein Radweg führt. In großen Windungen schlängelt sich der Fluss durch das liebliche Tal, in dem blühende Wiesen meinen Blick fesseln, unterbrochen durch kleine Felder und Raine.

      In Nickersfelden stehe ich an einer Kreuzung und überlege gerade, wo es weitergeht, als eine Frau auf mich zukommt. Sie fragt mich, ob ich ein Handy hätte. Ich zeige ihr mein Smartphone und sie erklärt mir ein wenig umständlich, dass ihr Handy entladen sei und sie eine dringende Mitteilung abschicken müsse. Ob ich ihr nicht mein Smartphone dafür zur Verfügung stellen könne. Mir erscheint ihr Wunsch etwas absonderlich. Außerdem ist mir klar, dass sie damit allein nicht zurechtkommen wird. Ich will ihr aber dennoch helfen und biete ihr an, ihre Botschaft abzusenden. Sie diktiert mir die Nummer der Adressatin und ich nehme ihre Mitteilung auf. Es geht um ein vereinbartes Treffen. Nach dem Absenden zeige ich ihr auf dem Display, dass alles erledigt ist, wie sie es gewünscht hat. Sie strahlt und wünscht mir Gottes Segen auf meinem Pilgerweg, den ich gern annehme.

      Nach dieser kleinen Episode erreiche ich am späten Nachmittag Bad Kissingen. Schnell habe ich den großen Campingplatz gefunden. In der Rezeption herrscht Hochbetrieb. Hier ist was los am Himmelfahrtstag. Endlich kann ich mein Anliegen für eine Übernachtung im Zelt vorbringen, als die Chefin des Platzes den Aufdruck auf meinem T-Shirt unter der Weste bemerkt. Sie fragt etwas ungläubig, ob ich wirklich mit dem Fahrrad und allein nach Rom wolle. Als ich es bestätige, ist sie begeistert und schenkt mir die Übernachtung. Sie führt mich persönlich zu der kleinen Wiese hinter den Wohnwagen, auf der ich mein neues Zelt aufschlagen kann.

      Beim Verstauen meiner Sachen im Zelt versuche ich, eine gewisse Ordnung herzustellen, damit ich im Ernstfall auch wiederfinde, was ich brauche. Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Zunächst packe ich die leeren Hinterradtaschen unter das Fußende des Schlafsacks, der auf der Schaumgummimatte liegt. Meine wenige Bekleidung ist in Plastetüten verpackt, die ich unter und neben das Kopfende des Schlafsacks platziere. Sie bilden mein Kopfkissen. Die Vordertaschen stelle ich ins Vorzelt neben den Eingang. Neben ein paar anderen Utensilien enthalten sie im Wesentlichen mein Kochgeschirr und den Mundvorrat. Taschenlampe, Waschzeug und Handtusch liegen neben dem Schlafsack. Auf der anderen Seite stapeln sich Helm, Handschuhe und Fahrradklamotten, soweit sie nicht schon gewaschen auf der Leine hängen. So könnte es gehen.

      Jetzt folge ich meinem dringenden Bedürfnis zu duschen. Der Sanitärtrakt des Platzes liegt gleich um die Ecke. Um morgen früh Zeit zu sparen, rasiere ich mich zuerst. Ich ziehe die Nassrasur der elektronischen Trockenrasur vor, da bin ich etwas altmodisch. Ich liebe den mit Rasierpinsel aufgetragenen Schaum, das Kratzen der Klinge, das frische Gefühl auf der Haut und das angenehme Brennen auf den Wangen, wenn ich sie mit dem Rasierwasser leicht abklatsche.

      Nach der Ganzkörperreinigung ziehe ich den warmen Vliespulli drüber, um auf der Freisitzfläche des Restaurants nicht zu frieren. Ich fühle mich frisch und bin hungrig. Das Abendbrot, das ich in guter Qualität bekomme, sättigt mich. Zufrieden schlüpfe ich mit dem Dunkelwerden ins Zelt. Ich genieße es, in den kuschligen Daunenschlafsack zu kriechen, der mich warm umhüllt. Auch bei den zu erwartenden niedrigen Temperaturen in der Nacht sollte ich darin nicht frieren.

      Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die Nacht doch nicht so gut verlaufen war, wie ich es erhofft hatte. Das hängt weniger mit der Kälte zusammen, die mir nichts anhaben konnte, als vielmehr mit der dünnen Schaumgummiunterlage. Ich habe durch sie hindurch den harten Boden sehr deutlich gespürt und bin deswegen immer wieder aufgewacht. Da ist Abhilfe erforderlich, sobald sich dazu die Gelegenheit ergibt.

      Doch jetzt ist erst mal das Frühstück dran. Es beginnt mit einem großen Löffel Haferflocken und einem mit Leinsamen, die ich mische. Mit dem Wasser, das ich auf meinem Gaskocher heiß gemacht habe, entsteht so mein Müslibrei. Der Kocher ist ein Aufsatz, der auf der Kartusche mit dem Propan-Butangasgemisch sitzt und verriegelt wird. Das ist wirklich eine prima Erfindung, leicht und gut handhabbar. Mein alter Benzinkocher ist wesentlich schwerer, braucht Benzin und zum Anwärmen Brennspiritus. Das macht seine Handhabung aufwändig. Dennoch liegt er noch als Reserve in meiner Campingkiste. Ich konnte mich noch nicht gänzlich von ihm trennen, da er hat mir treu und zuverlässig auf meinen Bergfahrten gedient hat.

      In der Tasse mit dem heißen Wasser hängt der Teebeutel, den ich jetzt herausnehme und ausdrücke. Ich esse zum Müsli einen Apfel und eine Kiwi und danach einige Brotscheiben mit Butter, Käse und Marmelade. Zu meiner Fahrradverpflegung gehören auch Espresso-Sticks und einige Portionen Kaffeesahne. Es fehlt an nichts und das macht mir schon am Morgen gute Laune. Dafür benötigt der ganze Aufbruch einschließlich Frühstück aber auch seine Zeit. Mir fehlt noch die Übung. Obwohl ich schon sechs Uhr aufgestanden bin, ist es schon Viertel nach acht, als ich den Campingplatz Richtung Würzburg verlasse.

      Es fährt sich ruhig und gemütlich auf dem Main-Saale-Radweg nach Schweinfurt. Er ist gut ausgeschildert. Ich habe mir vorgenommen, auf dem äußeren Ring der Stadt zu bleiben und das Zentrum auszulassen. Für Würzburg möchte ich mir etwas mehr Zeit nehmen. Es ist unmöglich, jede interessante Stadt am Pilgerweg näher zu erforschen, das habe ich schon bei der Vorbereitung meiner Reise feststellen müssen. Deshalb begnüge ich mich jetzt mit Eindrücken von Schweinfurt, von den Menschen und dem Verkehr. Alles das macht eine Stadt lebendig, verleiht ihr Charme oder lässt sie hektisch erscheinen. Ich versuche, die Momente aufzunehmen, die mich in Schweinfurt berühren und da ist vieles: der fließende Verkehr, die rastlosen Menschen, die über die Straßen und Plätze eilen, zielgerichtet und erfolgsorientiert, nicht nach links oder rechts schauend, und da bin ich, mittendrin auf einem großen Parkplatz im Einkaufszentrum. Ringsum begrüßen mich Geschäfte und Märkte mit vertrauten Namen.

      „Bist du nicht auch erfolgsorientiert? Was ist dir denn wichtiger, der Weg oder das Ziel? Nicht Rom, das liegt in weiter Ferne, nein, dein Tagesziel. Vergisst du in deiner Orientiertheit auf das Ziel nicht auch, den Weg wahrzunehmen mit seinen Besonderheiten? Achtest du auf die Stimmung des Wegs, auf seine Energie? Spürst du sie als Tourist, als Weltenbummler oder als Pilger?“

      „Im Moment spüre ich da keinen Unterschied. Wenn ich akzeptiere, dass ich unterwegs bin, wird die Stimmung meines Wegs sichtbar in den Bäumen am Weg, den Wiesen und Feldern, den Häusern, dem Himmel, der alles überspannt. Ich fühle sie im Wind, der mich mal hindert und mal vorantreibt, der mir Staubkörner in die Augen weht und den schweißnassen Rücken kühlt. Ich kann die Strahlen der Sonne spüren, die meinen unterkühlten Körper wieder erwärmen, wenn ich aus dem Schatten der Bäume heraus in das helle Licht gelange.“

      „Fühlst du deine Verbundenheit mit dem, was dich umgibt? Erkennst du darin auch deinen eigenen Ursprung?“

      „Ich kann darauf weder mit einem ‚Ja‘ noch einem ‚Nein‘ antworten. Ich fühle noch große Anteile des Touristen in mir, der eine Leistung zu erbringen, ein Tagesziel zu erreichen hat, um am Ende stolz darauf zu sein. Dabei ist es das gerade nicht ist, was mich auf den Weg gebracht hat. Das sollte alles Nebensache sein. Zur Hauptsache bin ich noch nicht vorgedrungen. Doch danke ich dir für den Hinweis.“

      „Versuche nicht, etwas zu erzwingen, was du nicht fühlen kannst. Das, was du jetzt fühlst, ist wichtig und wird dir den Weg weisen. Lass dir dafür die erforderliche Zeit. Es geht nicht darum, das alte Ziel durch ein neues, spirituelleres zu ersetzen. Ein solches Streben führt dich auf den Holzweg, in eine neue Rolle. Hol den Zettel von Moni aus der Tasche. Begreife