Mir bietet sich ein eindrucksvoller Anblick, den zu erleben ich in tiefster DDR-Realität nicht zu hoffen gewagt hätte. Ich bin dankbar für die Wende, die mir heute, fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, dieses Erlebnis erlaubt.
Es ist kurz vor sechs Uhr, als ich mich dem Detwang-Camping nähere, das kurz vor Rothenburg liegt, um dort mein Zelt aufzustellen. Ich frage nach einem Supermarkt und erfahre, dass ein solcher in der Stadt noch bis zwanzig Uhr geöffnet hat. Dorthin fahre ich, so wenig Lust meine Beine auch darauf verspüren, aber ich muss unbedingt noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Im Abendessen sehe ich meine einzige Chance, Kalorien für den nächsten Tag in mir zu bevorraten, wobei mir bewusst wird, dass ich trotzdem von den körpereigenen Reserven zehre. Hoffentlich nehme ich nicht zu viel ab. Bei siebenundsechzig Kilogramm Ausgangsgewicht bliebe da nicht viel von mir übrig.
So besteht mein Abendmenü aus Kartoffelsalat mit Kasseler Koteletts, einem Radler und einem Viertel Riesling. Es schmeckt vorzüglich, ich bin mir schließlich selbst der beste Koch und ich werde ausreichend satt.
Mit Dunkelwerden krieche ich in meinen Schlafsack auf die neue Isomatte. Endlich habe ich gefunden, was ich wirklich brauche und bin begeistert. Von dem harten Grasboden des Platzes spüre ich nicht das Geringste. Diese Matte war ein guter Griff, sie ist handlich und im aufgeblasenen Zustand mit ihren drei Zentimetern Dicke eine geeignete Unterlage. Sie soll mich bis zum Ende meiner Pilgerreise begleiten.
Wie jeden Tag stehe ich auch heute, am Sonntag, zeitig auf, sodass ich gegen sechs Uhr schon mit meinem Frühstück in den Aufenthaltsraum des Campingplatzes gehen kann, in dem sich außer mir verständlicherweise niemand um diese Zeit aufhält. Das erlaubt mir, meinen Gaskocher in Betrieb zu nehmen, mit dem ich das Wasser für meinen Frühstücksbrei und den Tee zum Kochen bringe. Die bitteren Mandelkerne füge ich vorbeugend meinem Müsli bei, gegen ein mögliches Rezidiv meiner Prostata-Krebserkrankung.
Als weitere vorbeugende Maßnahme führe ich zehn Ampullen einer Thymuslösung mit, die ich mir intramuskulär spritze, zweimal die Woche, also über einen Zeitraum von fünf Wochen. Wenn ich wieder Zuhause sein werde, setze ich die ebenfalls vorbeugende Mistelbehandlung fort. Thymus und Mistel sind jeweils Präparate, die die natürliche Immunabwehr des Körpers gegen eine Ausbreitung der im Körper möglicherweise noch vorhandenen Krebszellen aktivieren und verstärken sollen. Ich hoffe, sie tun es.
„Diese Maßnahmen sind der weniger wichtige Teil der Veränderungen, die du als wesentlich erkannt hast, die Not deiner Krankheit zu wenden. Sie hatte für dich eine lebenswichtige Botschaft, die du nicht aus den Augen verlieren darfst.
Es ist wunderbar, all die Dinge zu erleben, die dir auf deiner Fahrradreise begegnen. Sie sollen dich aber etwas erkennen lassen, und zwar nicht nur mit den Augen und dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen.
Dazu musst du in dir die Stille finden, aus der all das hervorgegangen ist, was du so wunderschön findest. Du musst selber diese Stille sein, um diese tiefere Begegnung zu ermöglichen, die nur auf der Ebene deines Herzens stattfinden kann. Für diese Augenblicke ist es wichtig, dein Tun und Wollen loszulassen, das Leben einfach sein lassen. Das ist dein Auftrag, du hast ihn schriftlich erhalten.“
„Danke für die Erinnerung. Ich versichere dir, ich bin bemüht, ihn umzusetzen. Die Botschaft hat eine große Bedeutung für mich. Aber jetzt ist die Absicherung der äußeren Aspekte meiner Reise wichtig, Essen, Trinken, die geeignete Übernachtung, das touristische Spektakel. Das hat auch seine Berechtigung. Doch ich stimme dir zu, dass sich meine Reise nicht darauf beschränken sollte und gebe dir recht, dass die inneren Aspekte meines Weges, meine Gegenwärtigkeit und das Fühlen meiner Verbundenheit auf diesem Pilgerweg eine Priorität besitzen.“
„Es ist hoffnungsvoll, dass du sehr sensibel und offen auf meine Impulse und Hinweise eingehst, wenn du sie denn erkennst und zulässt. Du weißt tief in dir, dass du mehr bist als dein Körper, mehr als deine Leidenschaften und mehr als deine Ängste. Aber dieses Wissen allein reicht nicht aus. Dein Wille ist erforderlich, diese Einsicht umzusetzen, um sie in dir zu erfahren. Erst deine tiefe Erfahrung wird dich zu dem verändern, der du wirklich bist, und dein Bemühen darum wird vom Universum, vom Heiligen Elterlichen Geist unterstützt. Dessen sei dir gewiss.“
Ich freue mich über den kurzen Dialog. Er erinnert mich an das tiefere Anliegen, das ich mit meiner Pilgerreise verbinde. Dankbarkeit durchströmt mich jetzt, das Gefühl von Geborgenheit und Gewissheit in dem Frieden, jetzt hier zu sein. Ich darf der sein, der ich bin, und es ist nicht erforderlich, dafür etwas zu tun.
Dieser wunderbaren Freiheit bin ich mir jetzt bewusst, fühle mich beschenkt und freue mich darüber. Das taunasse Zelt lasse ich erst mal stehen. Mit dem Rad ohne Gepäck kann ich leicht in die Stadt fahren, um mir wenigstens einen Eindruck von ihr zu verschaffen, schließlich ist sie eine der schönsten Städte in Deutschland und ich darf sie leibhaftig sehen.
Ich fahre langsam und ruhig den Berg hoch, der in Serpentinen bis an die äußere Stadtmauer führt. Durch das Würzburger Tor betrete ich die Stadt und sehe nach wenigen Schritten das innere Stadttor vor mir. Ich erkenne es wieder. Ein Bild davon, das jetzt sehr lebendig in mir aufsteigt, hing in der Wohnstube meiner Großeltern. Ich erinnere mich, meine Großmutter gefragt zu haben, was dieses Bild zeigt, und seit ihrer Antwort hat sich der Name Rothenburg ob der Tauber tief in meinem Gedächtnis eingegraben, als exotische Stadt, in weiter Ferne im Westen liegend, für mich unerreichbar weit.
Als kleiner Junge glaubte ich damals, der Zusatz „ob der Tauber“ müsse so etwas sein wie ein Adelstitel, der diese Stadt nach meinem kindlichen Empfinden vor allen anderen heraushob.
Jetzt ist alles ganz normal. Das Stadttor liegt in seiner einfachen Schönheit vor mir und ich kann es wahrhaftig durchschreiten. Ich dringe tiefer ein in die fast menschleere Stadt, jetzt, am frühen Morgen. Die Zeiger der Kirchturmuhr zeigen auf ein paar Minuten nach sieben Uhr. Die Jakobskirche, die mich als Pilger anzieht und von der ich mir einen Stempel in meinen Pilgerpass erhoffe, ist noch geschlossen. Es ist die einzige Kirche auf meiner Reise, die zwei Euro fünfzig Eintritt verlangt, wie ich aus dem Anschlag im Schaukasten neben der Pforte ersehen kann. Ich fahre langsam kreuz und quer durch Straßen und Gassen, bewundere die alten Fachwerkhäuser und den Fleiß und die Liebe, der diese Stadt ihr Bild verdankt. Durch das Klingentor fahre ich aus Rothenburg heraus und zum Zeltplatz zurück. Ich habe noch eine Stunde damit zu tun, das Zelt und die Taschen einzupacken und verlasse erst gegen halb zehn den Platz.
Nun quäle ich mich auf dem Fahrrad mit vollem Gepäck noch einmal hoch zur Stadt, fahre entlang der Außenmauer eine halbe Runde und entscheide mich, die Reise in Richtung Feuchtwangen fortzusetzen, über Diebach und Schillingsfürst. Weiter geht es über Wörnitz, kleine Landsträßchen über Zumhaus, Ungetsheim und Mosbach in direkter Richtung auf Dinkelsbühl zu.
Auf Höhe Mosbach erinnert mich ein aufsteigendes Hungergefühl daran, dass es schön und sinnvoll wäre, jetzt etwas zu essen. Ich frage im Ort einen Mann mit grünem Trachtenhut nach einem Gasthof und er verweist mich lachend auf den Gebäudekomplex, der etwas abgerückt an der linken Straßenseite steht und den ich glatt übersehen habe.
Mir drängt sich die Erinnerung auf, dass ich als kleiner Junge auch so einen Hut hatte, mit dem mich meine Mutter schmückte und den sie ganz toll fand. Es war der „Seppelhut“ und ich habe ihn noch lange als Erinnerungsstück aufbewahrt. Der Seppelhutmann versichert