Das Leben sein lassen. Thilo Gunter Bechstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thilo Gunter Bechstein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783961451401
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spüre ich diesen Krieg in mir und ich glaubte bis jetzt, dass ihn die Akteure der von mir inhalierten Nachrichten ausgelöst hätten. Ich konnte nicht erkennen, dass ich meine unerlösten Kindheitsgefühle von Ohnmacht, Hilf- und Lieblosigkeit bereits auf die beobachteten aktuellen Geschehnisse und deren Protagonisten projiziert hatte. Sie begreife ich als die Urheber meines Schmerzes und aus der gefühlten Ohnmachtssituation heraus richte ich gegen sie meine Wut und meinen Hass. Das ist der Krieg, der in mir stattfindet. Mein Hörsturz ist eine Folge dieses Geschehens in mir. Er weist mich auf die Notwendigkeit hin, diesen sinnlosen Kampf zu beenden, sollte ich mich entschließen, nicht länger darunter leiden zu wollen.

      Das Symptom tritt auf der rechten, der männlichen Körperseite in Erscheinung. Es setzt die männliche Seite meines Hörens außer Kraft. Ich habe sie überstrapaziert, deshalb wurde sie abgeschaltet. Die Taubheit rechts zwingt mich dazu, mit dem linken Ohr zu hören. Die linke Körperseite ist die weibliche Seite. Ihre Aufnahme und Verarbeitung der Umweltimpulse folgt nicht vordergründig dem Verstand, sondern eher dem Fühlen. Jetzt erkenne ich, dass die Reaktionen meines Verstandes auf die negativen Nachrichten, die ich in mich reingezogen habe, unbewusst und egogesteuert waren. Ich konnte die Informationen nicht als das begreifen, was sie in Wahrheit sind: Hinweise auf die wahnsinnigen Egoreaktionen von Einzelnen und Kollektiven, die noch immer das Leben auf dieser Erde bestimmen. Anstelle sie zu durchschauen, habe ich sie angeschaut und bin in die Unbewusstheit hineingezogen worden, die sie verbreiten. Anstatt Frieden zu schließen, habe ich den Kampf aufgenommen, der mich immer tiefer in die Unbewusstheit hinein geführt hat.

      „Jetzt bin ich verständlicherweise sehr an der Lösung meines Problems interessiert. Ich glaube, dass ich mehr Gegenwärtigkeit in meinen Alltag bringen muss, mehr Achtsamkeit. Ich möchte vom Krieg in den Frieden gelangen, doch wie stelle ich das an?“

      „Du darfst probieren, was immer du erfahren willst, aber du musst nicht. Müssen ist ein Gedankenkonstrukt deines Ego. Dahinter steht der Zwang, dass du anders sein solltest, als du bist. Deine Wahrheit liegt aber nicht darin, jemand sein zu wollen, den dein Verstand sich gerade ausgedacht hat. Es gibt nur einen Weg in den Frieden, den du dir wünschst: Frieden zu schließen mit dem gegenwärtigen Augenblick und der schließt den ein, als den du dich jetzt erlebst und empfindest.

      Die von dir gesuchte Dimension erschließt sich dir im fühlenden Erkennen deiner selbst, der du in der Tiefe deines Wesens bist und in diese Tiefe kann dein Verstand nicht gelangen, weil er an die Formen gebunden ist. Da dein wirkliches Sein formlos ist wie die Lebendigkeit, die du jetzt in dir fühlen, aber nicht erklären kannst, kann dein Sein durch deinen Verstand weder ausgedrückt noch erkannt werden. Daher kannst du auch nicht „wissen“, wer du bist. Du kannst es in deiner Tiefe erfahren, wenn du jeden Versuch zu wissen wer du bist, aufgibst.

      Dein Verstand versucht dir immer zu sagen, wer du sein solltest und er findet dieses Wissen häufig aus dem Vergleichen mit Anderen. Das Vergleichen ist eine Lieblingsbeschäftigung deines Ego. Es verlangt für seine Bestätigung immer besser, immer bekannter oder immer mehr von etwas zu sein, mit dem es sich gerade identifiziert. Es ist nie zufrieden, da seine Struktur durch das Verlangen geprägt ist. Die Gier kann jedoch durch das Haben oder Erreichen nur vorübergehend erfüllt werden. Diese Erfüllung verschwindet schnell hinter der Gewohnheit, zu der sie wird und die ruft neues Verlangen auf den Plan. Kannst du das verstehen?“

      Ich kann meine Seele sehr gut verstehen. Sie weist mich auf das suchtartige Verhalten hin, dass mit meinen Internetausflügen in den Bereich der politischen Horrornachrichten verbunden ist, mit denen sich mein emotionaler Körper sättigt. Es ist jetzt wichtig für mich, einen Weg zu finden, der mich aus dieser Abhängigkeit heraus führt, den Weg zum Frieden mit mir selbst.

      „Du solltest dich nicht unter Druck setzen. Das ist kein Zustand, in dem dir innovative Lösungen zufallen werden. Inspiration und Kreativität kommen nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Bereich der Intuition und dahin kommst du nur durch Leichtigkeit, durch Loslassen fester Vorstellungen. Mach etwas, worin du frei und leicht sein kannst, damit du ins Sein eintreten kannst, in das Feld purer Möglichkeiten. Achte auf dein Gefühl bei meinen Worten und lass zu, was aus deinem Bauch kommt.“

      „Es sollte irgendetwas Verrücktes sein, das mir Lösungen zeigt. Ich fühle die Notwendigkeit, in das Unbekannte aufzubrechen, in dem ich dem begegnen kann, der ich wirklich bin, jenseits meiner Abhängigkeiten. Dafür könnte ein Wechsel meines Umfelds günstig sein, der mit einer Herausforderung verbunden ist, die meine Präsenz verlangt, mein totales Sein.

      Und auch wenn du mich auslachst, sage ich dir, dass ich mich noch einmal auf einen Pilgerweg begeben möchte. Es muss nicht Santiago sein, da bin ich gewesen, doch erinnere ich mich an die Freiheit und an die Leichtigkeit, die sich mir auf diesem Weg erschlossen hatten.“

       Pilger ist, wer sich auf den Weg macht

      Mit dem deutlichen Gefühl der Unterstützung durch meine Seele, mein Höheres Selbst, will ich bald als Pilger unterwegs sein. Ich habe beschlossen, mit dem Fahrrad nach Rom zu fahren. Diese Pilgerreise werde ich längs eines Pilgerwegs unternehmen, den der Abt von Stade im 13. Jahrhundert dokumentiert hat.

      Mit Blick auf mich selbst stelle ich eine innere Begeisterung fest, die mich auf den Pilgerweg zieht. Ich habe gute Gründe, diese Reise anzutreten. Das überraschende Ereignis meines Hörsturzes und die damit in Zusammenhang stehenden Fragen sind ausreichende Gründe, um mich in Bewegung zu setzen. Die körperliche Bewegung soll die notwendige geistige Bewegung initiieren, die ich mit der Frage verknüpfe nach dem, der ich bin.

      Jetzt erinnere ich mich auch der Gründe für meine erste Pilgerreise nach Santiago de Compostela, die ich vor vier Jahren gemacht habe. Der Auslöser für die Idee zu pilgern war das selbstgewählte Ende meiner freiberuflichen Tätigkeit als rechtlicher Betreuer, die mir in den letzten Jahren meines Berufslebens viel Freude und Erfüllung gebracht hat. Mit der Pilgerreise wollte ich mich vom Arbeitsleben verabschieden. Ich stellte mir vor, dass ich mich mit diesem Ritual selbst in den Altersruhestand versetzen wollte.

      Natürlich waren auch Neugier und Abenteuerlust an meiner Entscheidung beteiligt.

      Sie ist auch jetzt wieder spürbar, meine Sehnsucht nach der Weite, die Herausforderung, über die Grenzen des Alltags und meine eigenen Begrenzungen hinauszugehen. Die erkannte Abhängigkeit und der damit verbundene Wunsch, mein Suchtverhalten zu überwinden, sind dabei Facetten auf meinem Weg. Ich sehne mich nach dem Grenzenlosen, nach einer Tiefe, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie erreichen werde. Und dann gibt es noch ein Begehren nach etwas, das ich nicht einmal genau definieren kann. Vielleicht ist es meine tiefe Sehnsucht nach Frieden, nach Annahme, nach wunschlosem Dasein in einer Welt, die mich täglich mit dem Gegenteil davon konfrontiert.

      Zu diesem Gegenteil rechnete ich damals auch die Tatsache, dass mich ein Urologe mit dem Verdacht auf Prostatakrebs konfrontiert hatte, einfach auf Grund der Tatsache, dass die Werte meines prostataspezifischen Antigens (PSA) weit über dem Sollwert für den Normalzustand lagen. Eine Erhärtung des Verdachts durch eine Biopsie, eine Gewebeprobeentnahme aus der Prostata, hatte ich allerdings nicht zugelassen.

      Das waren zwingende Gründe, um mich auch im achtundsechzigsten Lebensjahr noch auf den Weg zu bringen. Inzwischen hatte sich der Krebsverdacht bestätigt und ich bin operiert worden. Mir war bewusst, dass der Erfolg dieser körperlichen Maßnahme von der Änderung meiner Lebenshaltung abhängt, letztlich davon, ob ich die Botschaft meiner Seele verstanden und umgesetzt habe, die in dieser Erkrankung für mich enthalten war. Ich habe mich intensiv mit ihr auseinandergesetzt und ein Buch2 darüber geschrieben. Die Auseinandersetzung hält noch an, hat aber mit dem Hörsturz einen neuen, dringlichen Aspekt hinzubekommen, der letztlich ausschlaggebend für meine Entscheidung zur erneuten Pilgerreise ist.

      Dass ich diesmal mit dem Fahrrad pilgern will, hat seine Ursache in meiner Konstitution. Ich bin bis vor Kurzem noch intensiv gewandert und gelaufen. Aber eben nur so lange, wie meine Lendenwirbelsäule die wachsende Zumutung klaglos hingenommen hat. Den Jakobsweg habe ich zu Fuß über die gesamte Strecke mit einem dreizehn Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken problemlos bewältigt. Diese Überzeugung hielt ich allerdings nur solange aufrecht, bis sich die Taubheitsgefühle im rechten Fuß