Als besonderen Gag habe ich mir ein weißes Träger-T-Shirt mit der Aufschrift „Rom-Pilger“ bedrucken lassen. Es sollte nicht nur für mich selbst ständige Erinnerung an das besondere Anliegen meiner Reise sein, sondern auch die dahinter stehende Botschaft sichtbar nach außen bringen. Ich würde mich damit als Sucher oder Finder zu erkennen geben.
Da mein Romführer für den deutschen Teil in Gotha beginnt, habe ich Gotha als Startpunkt festgelegt und rechtzeitig ein Sparticket bei der Bundesbahn geordert.
Nun kommt es in meiner Gemeinschaft nicht jeden Tag vor, dass sich ein Siebziger aufs Fahrrad schwingt, um damit nach Rom zu fahren. Ich habe bekanntgegeben, dass ich heute, am dreizehnten Mai des Jahres 2015, um sieben Uhr das gemeinschaftliche Rittergut verlassen will. Deshalb finden sich ein paar gute Freundinnen und Freunde am Tor ein, um mir ihren Segen für diese Reise mitzugeben, in Form von guten Wünschen und Umarmungen. Moni erinnert mich mit einem kleinen Kärtchen daran, wie wichtig es ist, „das Leben einfach sein zu lassen“, und diese liebevolle Erinnerung nehme ich an. Sie wird mich als Wegweiser begleiten.
Mit geordnet gepackten Fahrradtaschen, zwei kleinere vorn und zwei größere am Gepäckträger, starte ich dann pünktlich in Richtung Bahnhof. Das Zelt, ein leichter, zusammenrollbarer Aluminiumtisch und eine dünne Schaumgummimatte als Unterlage sind in einer Tasche zusammengerollt und wasserdicht längs zwischen den hinteren Packtaschen festgezurrt. Dazwischen habe ich einen Kunststoff-Gewebesack gelegt und für alle Fälle den kurzen Holzknüppel gesteckt. Er sollte mir helfen, die Heringe in trockene und harte Böden zu schlagen. Der Gummihammer ist mir zu schwer.
Mit dem guten Gefühl, perfekt vorbereitet und ausgerüstet zu sein, besteige ich in Riesa den Regionalzug nach Leipzig, um von dort mit dem Intercity nach Gotha zu fahren. Langsam stellt sich in mir jenes Hochgefühl ein, das mit der gespannten inneren Erwartung auf das verbunden ist, was da auf mich zukommen wird. Meine Begeisterung nimmt mit jedem Kilometer Bahnfahrt zu, der mich dem Ausgangspunkt meiner Pilgerreise näher bringt. Jetzt erst freue ich mich unbändig darüber, dass ich mich für diese Reise entschieden habe. Ich zweifle nicht mehr, dass es jetzt und in den kommenden Wochen genauso sein soll: „Ich bin auf dem Weg.“
In Gotha komme ich am Mittag an. Immerhin habe ich noch die gesamte heutige Strecke vor mir, von der ich nur weiß, dass sie mich über den Kamm des Thüringer Waldes, den Rennsteig, führen wird. Dieser mittelalterliche Handels- und Grenzweg zwischen ehemaligen deutschen Fürstentümern ist mir vertraut und bekannt. Mehrfach bin ich auf ihm gewandert, in der DDR, im vereinten Deutschland, im Sommer und auch im Winter. Ich liebe den Rennsteig und freue mich auf die erneute Begegnung mit ihm. Ehe ich mit meinem Fahrrad losfahre, will ich in meinem Pilgerausweis dokumentieren, dass ich hier in Gotha gestartet bin. Das geschieht am schnellsten im Servicepunkt der Deutschen Bahn, in dem mir die Beamtin am Auskunftsschalter bereitwillig den Tagesstempel in den Pilgerpass drückt. Sie fragt mich neugierig, wo ich damit hin will und schaut mich erstaunt, ungläubig und ein wenig ehrfurchtsvoll an, als ich ihr das Ziel meiner Reise nenne.
Schnell bin ich auf der Ausfallstraße Richtung Friedrichroda aus Gotha herausgefahren. Es ist nicht weit bis dahin und ich erreiche über die Landstraße bald den kleinen Kurort am Rande des Thüringer Waldes. Die Fußgängerzone war mir noch von meinem jüngsten Aufenthalt bekannt. Ich hatte für einige Tage in Friedrichroda ein Hotel gebucht, in der Hoffnung, im Januar mit meinen Langlauflatten auf dem verschneiten Kamm des Thüringer Waldes loslegen zu können. Doch der hatte in üppigem Grün geprangt und mich mit meinen Ambitionen komplett abblitzen lassen.
Jetzt sitze ich vorm Wiener Café im Sonnenschein, der mein nagelneues T-Shirt mit der Aufschrift Rom-Pilger leuchten lässt. Ich stärke mich vor der Überquerung des Hauptkamms, gönne mir aber keine zu lange Pause, wohl wissend, dass hier der Ernst des heutigen Tages beginnt.
Der erweist sich dann auch ab dem Waldschlösschen als steil in Richtung Kamm führende Schotterpiste. Sie trägt im unteren Teil den Namen „Rote Straße.“
„Mein Gott, ist das Fahrrad schwer! Wie soll ich das Ding da hochkriegen?“
Ich muss mich mit all meiner Kraft in den Lenker stemmen, damit ich es überhaupt den Berg hoch bewegen kann. Schieben und immer wieder schieben, dazwischen kurze Pausen zum Luftholen, Kräftesammeln, und weiter. Der Start in mein Pilgerabenteuer fällt mir nicht leicht, und die Schotterstraße erscheint endlos. Tatsächlich führt sie lediglich über zweieinhalb Kilometer ständig ansteigend auf den Rennsteig.
Endlich komme ich am Possenröder Kreuz an. Das ist ein markanter und zugleich bekannter Wegpunkt des Rennsteigs, an dem sich eine kleine Schutzhütte für Wanderer befindet. Über das Wiedersehen mit ihm freue ich mich und lege hier eine verdiente Verschnaufpause ein, ehe ich meinen Weg fortsetze. Nach dem anstrengenden Anstieg fühle ich mich doch ziemlich ausgepumpt.
Der Weiterweg wird zur halsbrecherischen Abfahrt auf der anderen Seite, die mir höchste Achtsamkeit abfordert. Aber auch die folgenden Anstiege verlangen mir ein Höchstmaß an körperlichem Einsatz ab. Und immer wieder schieben, schieben ohne Ende bis Knie und Arme zittern. Ich hatte mein Gepäck gewogen und siebenundzwanzig Kilo für alles zusammen schienen mir nicht zu viel. Bereits am ersten Tag erkenne und bereue ich, dass ich mich damit geirrt habe.
Aber ich bewältige die Strecke, für die ich mich während der ausgiebigen Pause auf dem Rennsteig entschieden habe. Ziemlich am Ende meiner Kräfte komme ich gegen halb sechs abends in dem kleinen Hotel in Steinbach-Hallenberg an, das ich ein paar Stunden zuvor per SMS vor meinem Eintreffen gewarnt hatte. Mein noch funktionierendes GPS zeigte mir an:
zurückgelegte Entfernung: 45 km
Steigung: 1055 m
Gefälle: 900 m
Fahrzeit: 5h:15min
Ich habe diese Daten nur dieses eine Mal auswerten und notieren können. Aus ihnen geht hervor, dass ich heute durchschnittlich acht Komma sechs Kilometer pro Stunde zurückgelegt habe.
Zumindest in der Gaststube bin ich an diesem dreizehnten Mai der einzige Gast. Der Spargel, der mir auf der Speisekarte offeriert wird und von dem ich beim Bestellen gutgläubig annahm, er sei frisch, stammt offenbar noch aus der Zeit des Großherzogtums. Da bin ich doch etwas enttäuscht. Aber am nächsten Morgen gibt es ein recht ordentliches Frühstück und ich kann versöhnt in den neuen Fahrradtag starten.
Heute, am Donnerstag, ist Himmelfahrtstag. Nach meinem ursprünglichen Reiseplan wollte ich überhaupt erst heute starten. Im Hinblick auf den besonderen Charakter dieses Tages entschied ich mich aber, einen Tag eher loszufahren. Ich wollte unbehelligt von größeren Gruppen an Männertags-Ausflüglern und Freizeitradlern mein Fahrrad sicher und stressfrei im Zug mitnehmen. Am Rande der Straße, wo ich solche Gruppen dann tatsächlich immer wieder sehen kann, sollten sie mich nicht stören. Fröhlich grüßend fahre ich an ihnen vorbei.
So richtig klar ist mir beim Start allerdings nicht, wie weit ich heute kommen werde. Heute, das ist zunächst ein wunderschöner Morgen mit strahlend blauem Himmel, an dem ich entspannt und beschwingt mit viel Gefälle über Viernau bis Meinigen rolle. Nach Mellrichstadt berühre ich erstmalig den Pilgerweg, der hier als Via Romea gekennzeichnet ist. Der Name verweist mich auf mein Ziel, aber Rom ist für mich derzeit nur ein Begriff, fast eine Fiktion, so weit weg liegt diese Stadt.
Vielmehr freue ich mich über die hübschen Fachwerkhäuser, die Kneipen und Schenken mit fröhlichen Menschen im Freien, zu denen ich mich jetzt setze, um ein kleines Bier zu meinem mitgenommen Frühstücksbrot zu trinken. Ja, er fühlt sich gut an, der Pilgerweg, an mit diesem schönen, warmen Frühlingstag.
Die Kirche in Mellrichstadt lädt mit ihrer offenen Tür ein, mich für das Geschenk zu bedanken, als das ich heute diesen Weg und diesen Tag empfinde. Meine Gegenwärtigkeit im Gefühl des Dankens lässt mich diesen Augenblick sehr intensiv erleben. Dank ist die höchste Form meiner Anerkennung dessen, was ist. Im Danken fühle ich die Intensität meines Daseins besonders deutlich. Ich freue mich, ohne dass ich dafür einen Grund oder ein besonderes Ereignis benennen kann.
Heute Morgen bin ich nicht exakt dem im Pilgerführer beschriebenen Originalweg gefolgt, der über Schmalkalden führt. Von Steinbach-Hallenberg aus habe ich