Egal, ohne mir diese Frage zu beantworten, schwenke ich von der Straße ab und stelle mein Fahrrad an der Seite des Gasthofs an den Zaun. Danach erwartet mich wirklich eine Überraschung. Ich betrete einen großen Speisesaal, in dem an vielen Tischen wenigstens hundert Menschen zu Mittag essen. Ich werde an einen Zweiertisch eingewiesen, der mit einem halben Meter Abstand die Fortsetzung der Stirnseite eines Achtertischs bildet. Für die Größe des Saales ist es erstaunlich ruhig. Ich werde sogleich von einer hübschen jungen Maid im Dirndl nach meinen Wünschen gefragt und bestelle ein Wasser und ein Viertel Weißwein. Mein Instinkt signalisiert mir, dass es hier Spargel geben müsste, was sich als zutreffend erweist. Da ich die Weste ausgezogen und hinter mir auf den trachtenmäßig designten Stuhl gehangen habe, bin ich als Rom-Pilger erkennbar. Von meinem Nachbarn zur Rechten werde ich auch gleich darauf angesprochen, woraus sich ein intensiver Austausch über das Pilgern ergibt. Auf Grund meines unverkennbar sächsischen Dialekts wird auch die West-Ost-Frage erörtert. Ich freue mich, dass die Wartezeit bei diesem anregenden Gespräch so kurzweilig vergeht.
Unsere Unterhaltung wird unterbrochen durch den Riesenteller mit dampfenden Klößen und Sauerbraten, der meinem Gesprächspartner jetzt vorgesetzt wird. Das nötigt ihn, sich seinem Essen zuzuwenden. Lange muss ich auch nicht mehr auf meinen Spargel warten, der wunderbar frisch und zart zu mir kommt. Ich genieße ihn ausgiebig mit den neuen Kartoffeln, der Soße und dem Wein.
Ein Espresso sollte das Ganze abrunden. Er findet aber seinen Weg nicht mehr bis zu mir, sodass ich zahle und gut abgefüllt das Wirtshaus verlasse. Mir wird beim Anblick des vollen Parkplatzes klar, dass die Leute aus einem ziemlichen Umkreis hierher zum Mittagessen fahren und jetzt verstehe ich auch das Lachen und die Bemerkungen des Hutmannes.
Es geht weiter nach Larrieden, wo ich auf einen Radweg treffe, der geradewegs nach Dinkelsbühl führt. Mit einundfünfzig Kilometern habe ich heute nicht gerade eine Rekordstrecke zurückgelegt. Doch denke ich an die Hinweise meines „Höheren Selbst“ und begnüge mich mit der Feststellung, ohne sie weiter zu bewerten. Es gibt einen Zeltplatz „CCH“ am Rand der Stadt. Den suche ich auf und bekomme eine große Wiese oberhalb der wohlgeordneten Reihen von Wohnwagen und Wohnmobilen gezeigt, auf der ich mein Zelt als erstes und bisher einziges aufstelle.
Es ist Nachmittag und ich fahre noch einmal in die Stadt, besuche im Rathaus ein Museum und informiere mich dort über die Vergangenheit der Freien Reichsstadt Dinkelsbühl. Die Freisitzfläche eines kleinen Hotels am Marktplatz nimmt mich gegen Abend auf. Ich koche heut nicht selbst, sondern bestelle mir den angebotenen Obatzter und ein Weißbier. So lasse ich den Sonntag ruhig ausklingen. Zum Zeltplatz zurückgekehrt, treffe ich auf ein zweites kleines Bergzelt mit einem Fahrrad daneben. Es ist ein Holländer, der von Kroatien aus zurück in die Heimat fährt und sich über die Kälte beschwert, die ihn hier nach den warmen Tagen im Süden empfängt. Nach einem kurzen Schwatz mit ihm krieche ich in mein Zelt zur Nachtruhe.
Die Frühstückszeremonie beginnt heute, am achtzehnten Mai, etwas früher als gewöhnlich und nach dem Zusammenpacken kann ich bereits um viertel vor acht vom Zeltplatz starten. Mein Weg führt über Nördlingen. Dort nütze ich die am Weg liegende Poststelle, um überflüssige Gewichte wie Sandalen, Jeans, Campingtisch und den defekten Fahrradcomputer zurück in die Heimat zu schicken. Ich beschränke mich auf eine Hose und meine neuen Schuhe. Wie ich auf die Idee kommen konnte, einen Tisch mitzunehmen, ist mir schleierhaft.
Mit dem GPS-Gerät ist das so eine eigene Geschichte. Es ist gestern beim Einstellen der Wegpunkte „ausgestiegen“ und ließ sich nicht dazu bewegen, seine Aufgabe fortzusetzen. Es hatte sich „aufgehangen“, wie man so schön sagt. Der Bedienanleitung konnte ich keinen Hinweis für seine Wiederbelebung entnehmen. Deshalb habe ich resigniert das Ding nach Hause geschickt. Ich werde es reklamieren, wenn sich keine andere Lösung zur Behebung der Funktionsunfähigkeit findet.
„Hast du vielleicht darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn das Instrument ausfällt, mit dem du deine Tüchtigkeit dokumentieren willst? Der Ausfall ist kein Zufall. Ich erinnere dich an ein vergleichbares Ereignis.“
„Du hast mal wieder die Hand im Spiel. Ich hätte selbst drauf kommen müssen. Natürlich weiß ich, was du meinst. Zu Beginn meiner Pilgerreise nach Santiago habe ich noch auf dem Flughafen London-Stansted meinen elektronischen Schrittzähler verloren. Ich erinnere mich recht gut an deine Aufforderung zur Besinnung auf den Weg, der nicht Gegenstand einer sportlichen Höchstleistung werden sollte.
Na gut, ich hadere nicht. Hoffentlich gelingt es mir bald, die Dinge etwas entspannter zu sehen und loszulassen. Es ist, als ob ich das gleiche Thema immer wiederhole. Irgendwann und irgendwie muss ich es doch begreifen!“
„Lerne, über dich zu lachen, anstatt dich zu verurteilen. Nimm deine Schwäche an und umarme sie. Sie ist Teil von dir und begleitet dich schon lange Zeit. Bedanke dich für ihre Hilfe und entlasse sie in Frieden, damit sie wirklich gehen darf.“
„Das werde ich versuchen. Ich staune immer wieder über den unglaublichen Zusammenhang zwischen dem, was ich als die Stimme meiner Seele wahrnehme, und dem, was mir passiert. Kein Zufall!“
Ich habe bereits neununddreißig Kilometer zurückgelegt und eine Mittagspause verdient. In der Kirche St. Georg in Nördlingen halte ich nicht nur innere Einkehr, sondern bekomme auch einen schönen Pilgerstempel in meinen Pass. Der weitere Weg führt über Harburg an dem Flüsschen Wörnitz nach Donauwörth. Ordentliche neunundachtzig Kilometer bin ich gefahren und lande mal wieder in einem Kanu-Klub, auf dessen großer Wiese ich mein Zelt aufstellen kann. Die Sonne scheint noch sehr intensiv und ich suche mir ein schattiges Plätzchen unter dem weit ausladenden Dach, das die dichte Belaubung einer Weide bildet. Das Zelt aufzustellen ist mir inzwischen vertraut. Ich ordne meine Sachen und widme mich ausgiebig der Körperpflege in dem sauber glänzenden Waschraum des Vereins.
Es geht hier sehr familiär zu. Einige der Mitglieder des Klubs machen Urlaub und mit beginnender Dämmerung wird am Feuer gebrätelt. Ich bin bereits von meiner Abendmahlzeit gesättigt, setze mich aber noch für ein Bier dazu. Die zunehmende Kühle zeigt mir bald an, dass es Zeit für mich wird, in meinem Zelt zu verschwinden.
„Bloß nicht übertreiben mit dem Aufstehen!“, sage ich mir und blinzele noch gähnend in die Morgensonne.
Heute nehme ich mir etwas mehr Zeit und fahre erst dreiviertel nach neun Uhr los. Am Baumarkt um die Ecke halte ich kurz an, um nach einem kleinen Fahrrad-Tachometer zu fragen. Der ist ziemlich bedeutsam für die Orientierung hinsichtlich zurückgelegter Entfernungen. Ich erstehe tatsächlich einen solchen Computer. Er hat ein großes, gut lesbares Display. Das ist wichtig für mich, denn ich kann während des Fahrens nicht jedes Mal die Lesebrille aufsetzen, wenn ich nach dem Kilometerstand sehen will. Ich halte das in Folie eingeschweißte Teil in der Hand, beschließe aber nach kurzer Überlegung das Montieren auf morgen zu verschieben und fahre los.
Es fällt mir heute eigenartig schwer, den richtigen Weg zu finden. Ein paarmal bin ich schon falsch abgefahren. Entweder ist die Ausschilderung so schlecht oder ich habe keinen guten Tag. Zu oft muss ich fragen oder anhalten, um immer wieder in die Karte zu schauen.
„Ich spüre die Ungeduld aus einem Widerstand gegen das, was ist. Halte doch einfach mal an und fasse in die linke obere Tasche deiner Weste. Da steckt ein kleiner Zettel, der dich an die Aufgabe deines Wegs erinnert. Die Tatsache, dass auf deinem Hemd ‚Pilger‘ aufgedruckt ist, macht dich nicht automatisch zu einem solchen. Es gilt, eine innere Haltung zu finden und die drückt sich in deinem Sein aus, in deiner Art, wie du in der Welt oder auf dem Weg bist. Du bist heute selbst nicht zufrieden damit, stimmt’s?“
„Ja! Im Entdecken meiner Schwächen bist du einfach unübertroffen. Manchmal bin ich dir sogar dankbar dafür, zugegeben, nicht immer.“
Nun begreife ich auch die Schwierigkeiten mit dem Pilgerstempel in Augsburg. Ich war regelrecht versessen darauf, mir einen solchen für meinen Pilgerpass zu besorgen, nachdem ich mitbekommen hatte, dass hier ein Bischof sitzt. Nach Vorsprache im Sekretariat des Bischoffs werde ich mit diesem Anliegen vom Fronhof 3 zum Fronhof 4 geschickt, dann zur Dompropstei und lande schließlich erfolglos wieder im Sekretariat. Doch die Dame dort ist glashart und gibt mir keinen Stempel, nicht mal einen normalen Bürostempel,