Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blässe ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, während diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen.
Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weitgeöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das stärkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, etwas wahnsinnige Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn – viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjährigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjährig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch, – zu hübsch, anstößig hübsch für einen jungen Mann –; Marcel beinahe häßlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebenso wenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun stellte sich heraus, daß er unwiderstehlich war … Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle drei genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ‚Mein Gott – ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.’ –
Poiret hatte die Schwalbemutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zu Stande, durchsetzt mit englischen Brocken –: Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. „Poor Berlin!” rief er aus – sie waren vom Boulevard St. Germain in die lange traurige rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe; hinter ihnen Marion und Martin mit dem „petit frère”. „Poor Berlin!” sagte Marcel. „So schöne Stadt, ganz verdorben! Ganz verdorben – very sorry for you, meine süße Schwalbe, very sorry!” Die Grauhaarige, rüstig neben dem jungen Dichter einherstapfend, nickte und brummte: „Große Schweinerei! Na, wird ja nicht lange dauern …” – Mit so viel biederem Optimismus war Marcel nicht einverstanden. Mühsam jedes Wort suchend, – um es dann abenteuerlich falsch zu betonen –, riskierte er es, zu widersprechen. „Ah, ma pauvre Hirondelle – keine Illusionen! Schluß mit Illusionen, ma pauvre! Hitler ist, was bourgeoisie will. Wird sich lange halten, weil genau ist, was bourgeoisie gerne mag. Bourgeoisie will häßliche kleine Mann: bißchen Bauch schon –”, er deutete pantomimisch die leichte Leibeswölbung des deutschen Kanzlers an –, „und kleine moustache – garstig moustache, kommt wie schwarze Schmutz aus Nase gelaufen – oh, so verry ugly! Le bel Adolphe –: häßlichste Mann von die Welt. Häßlische Nase, und abscheulich Haar – so gemein in die Stirn coiffiert! Very sorry for you, Hirondelle, ma pauvre –: Deine Führer, häßlischte Mann von die Welt!” Er klopfte ihr mitleidig die Schulter, während David Deutsch, nervös amüsiert, von krampfhaftem Gelächter geschüttelt wurde und sich das verzerrte Gesicht mit den Händen bedecken mußte. Die Schwalbe wiederholte, gutmütig den französischen Akzent karikierend: „Mein Führer, häßlichste Mann von die Welt!” – Marcel sah, wenn er lachte, wie ein vergnügter Handwerksbursche aus. Alles was an ihm proletarisch-bäuerlich war, – und seine Physiognomie hatte volktümlich-derbe Züge neben den dekadenten – kam im herzhaften Gelächter zum Ausdruck und schien, solange die Freude anhielt, dominierend zu werden. Das Lachen verjüngte ihn und machte ihn gesund.
Marion, die den kleinen Kikjou schon ein paar Tage vorher mit Marcel getroffen hatte, versuchte Martin klar zu machen, was für eine Art von Geschöpf man da vor sich hatte; es störte sie kaum, daß der Geschilderte dabei war und sogar etwas deutsch verstand. „Er gehört zu diesen Jungens, wie man sie in Paris manchmal trifft, die alle Sprachen können und gar keine”, sagte sie. „Ich glaube, ursprünglich kommt er aus Brasilien; aber das ist alles etwas zu kompliziert für mein Fassungsvermögen. Jedenfalls ist er mit seiner Familie böse, und seine Familie ist wohlhabend und lebt teilweise in Rio, teilweise in Lausanne, der Wichtigste ist aber ein alter Onkel, und wir können ihn nicht ausstehen, weil er kein Geld schickt, oder beinah kein Geld, jedenfalls nicht genug.” – „Marion! Sie sind schrecklich!” unterbrach Kikjou sie lachend; aber er sah dabei nicht das Mädchen an, sondern Martin, aus sehr sanft strahlenden Augen. – Marion, unbeirrbar, fuhr fort: „Marcel behauptet, daß Kikjou manchmal recht schöne Gedichte macht. Aber der liebe Gott kommt zuviel in ihnen vor. Marcel ist doch so besonders gegen den lieben Gott.” – „Marion, du bist wirklich schrecklich!” Jetzt sagte es Martin, und auch er sah an der Angeredeten vorbei; es gelang ihm aber nicht mehr, Kikjous Blick einzufangen.
Marcel wandte sich um und rief über die Schulter: „Der liebe Gott? Toujours le Bon-Dieu? Merde, alors! On se dispute toute la soirée sur le Bon-Dieu – il parait que le petit Kikjou aime beaucoup ce type-là. Voilà notre petit Kikjou tout à fait furieux parceque je dis, tout simplement, que cet espèce de Bon-Dieu est un salaud, une cochonnerie, une vacherie, une connerie – une … je ne sais pas quoi …” – „Marcel!” bat Kikjou, mit einer ganz leisen, aber merkwürdig innigen, fast metallisch tönenden Stimme. „Marcel! Je t’en pris!” Dabei hob er mit einer priesterlich runden, sanft warnenden, beschwörenden Geste die flach geöffnete Hand. Aber der andere redete weiter, mit Akzent und Haltung eines streitsüchtigen Taxichauffeurs. „Eh quoi – alors! Sans blagué! merde alors! Tu ne comprends pas que c’est encore une espèce de politesse – par pitié – qui me fait dire que ton Bon-Dieu soit un salaud, puis’que, en vérité, il n’existe pas, tout simplement. Et je crois qu’il vaudrait toujours mieux d’exister comme un salaud que de n’exister du tout … Et quoi alors?!” – Seine Stimme klang böse, die Augen hatten ein schlimmes Funkeln. Er wartete Kikjous Antwort nicht ab, sondern drehte ihm wieder den Rücken und ging schnell weiter, so schnell, daß David Deutsch und die Schwalbe nun wirklich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Kikjou sagte, und lächelte etwas fahl: „Sie müssen es entschuldigen … Aber Sie kennen ihn ja. Sie wissen, warum er diese fürchterlichen Dinge sagen muß.” Sie blieben mehrere Minuten lang stumm, bis Martin fragte: „Aus welcher Sprache stammt eigentlich das Wort Kikjou? Es klingt wie ein Vogelname … Heißen Sie wirklich so?” Der Fremde schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: „Als ich ganz klein war, in Rio drüben, hat mich eine indianische Kinderfrau so genannt. Und dann Marcel wieder.” – Martin nickte.
Sie hatten die Gare de Montparnasse erreicht und bogen links in den Boulevard ein. Die Schwalbe schlug vor, man solle einen Rundgang durch die großen Cafés machen: „um die Freunde zu sammeln –”, als gälte es, einen feierlichen oder kriegerischen Umzug zu organisieren. In der „Coupole” fanden die Deutschen keinen ihrer Bekannten; nur Marcel wurde von ein paar jungen Leuten begrüßt, es waren französische Literaten, sie paßten nicht ganz in den Kreis. Im „neuen” Café du Dôme – einer erst seit einigen Jahren eröffneten, etwas eleganteren Dépendance des alten, schon klassisch ehrwürdigen Etablissements – trafen sie Professor Samuel, den Maler: ein betagter Herr, würdig, väterlich, aber immer noch unternehmungslustig, nicht