Der Vulkan. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066384098
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Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedächtnis war von einer fast krankhaften Stärke; er litt unter seiner Zuverlässigkeit wie unter einem Fluch. – „Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret”, sagte er jetzt und lächelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. „Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine große Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefährlich werden …” – Martin sagte – schnell und leise; ganz ohne die schleppend-kokette Manier, in der er sich sonst gefiel –: „Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht? … Wie man es auch immer anfaßt, und wie man sich auch entscheidet: die Zeit ist gefährlich für junge Dichter …”

      Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daß man ihn ‚auf der anderen Seite des Rheins’ irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, daß er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.

      Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern – sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen –, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste Milieu sensationell vor den Kopf zu stoßen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spuckhaft Gräßlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der Neunziger Jahre, obszönen Traum-Gebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des Häßlichen, Schokierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb – eine Art von pervertiertem Ästhetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie stellten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihre Formen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weil sie den Zustand der Welt mißbilligten; weil sie sich für die totale Veränderung des Weltzustandes revolutionär einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbath aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönität, verbarg – oder offenbarte sich die revolutionäre Hoffnung; ein fast naiver – und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, daß der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnädig lösen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Um-Organisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veränderung Ereignis geworden sein wird …

      In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag – in einer Fehde übrigens, die sich oft in nächtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswänden oder in Skandalszenen bei Theaterpremieren manifestierte –, zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und lärmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien –, die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohèmehaften Exzentrizitäten geäußert. „Mein Vater,” pflegte Marcel zu konstatieren, „war ein degeneriertes Schwein. Nach außen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er haßte meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, daß der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen Spießer, rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschäftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyäne. Sie hat alle schlechten, niederträchtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minderbegabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret,” sagte Marcel abschließend, „ist ein Scheusal.”

      Der Haß gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als „les sales boches” sprach, und der Ansicht war, daß die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte, und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schokieren, indem er seine Konversation mit Unflätigkeiten würzte, und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjähre wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die in Paris des ersten Nachkriegs-Jahrzehntes ihr seltsames Wesen trieb; zum umworbenen Enfant Terrible jener zugleich exklusiven und phantastisch gemischten Zirkel, in denen whiskysüchtige Halb-Genies aus New-York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordenen Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Balletts, mit opiumrauchenden Lyrikern, Neger-Boxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser „monde”; verachtete sie; wurde von ihr verhätschelt; schilderte und verhöhnte sie schließlich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkte auf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Greul war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafes waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nächte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um Schluß mit der abwechslungsreich-macabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New-Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Ärzte rieten ihm zu Davos. Er mußte nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beängstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailsparties und komplizierten Orgien. – Im Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum erstenmal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vorträge über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: „Wenn du mich nicht mit Brutalität und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so große Angst davor, daß ich verrückt werden muß. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe …”

      Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ähnlich sah. Marcel sagte: „Et voilà Kikjou – mon petit frère.” David