Professor Samuel schien die Unterhaltung zu beherrschen; als die Schwalbe mit ihren Freunden zur Gesellschaft stieß, ließ er eben seinen prachtvollen Baß hören: „Gewiß, jeder von uns hat viel aufgeben müssen. Ich hatte gerade Schluß gemacht mit dem Vagabundenleben – reichlich spät, wie manche meiner Freunde fanden –, und war wohlbestellter Professor in Berlin geworden, mit festem Einkommen, einem hübschen Atelier in Dahlem und nur noch ganz geringfügigen Schulden. Ein ruhiger Lebensabend war mir aber wohl nicht beschieden. Da sitze ich wieder, wie vor vierzig Jahren –: unbeschwert. Mein Besitz ist ein Handkoffer, enthaltend zehn französische und fünf deutsche Bücher, einen Flanellanzug, einen ungebügelten Smoking, eine Zahnbürste, einen Skizzenblock, zwölf Bleistifte und ein paar Tuben Farbe. So zog ich schon vor vierzig Jahren durch die Welt. Und inzwischen …” – er senkte sein großes, erfahrenes, altes Haupt; seine Stimme dämpfte sich düster –, „und inzwischen hat man sein Lebenswerk geschaffen.” Dann sprang er auf, um die Schwalbe und ihre Begleitung mit Herrn Bernheim bekannt zu machen.
Der reiche Mann sagte: „Herzlich willkommen an meinem Tisch!” Er hatte immer noch die salbungsvoll-gastliche Allüre, mit der er, so viele Jahre lang, seine Gäste – Politiker und Financiers, Chefredakteure und Schauspielerinnen, Prinzen, Musiker und Poeten – am Portal seiner Grunewald-Villa in Empfang genommen und begrüßt hatte. „Recht herzlich willkommen!” wiederholte er mit etwas öliger Stimme, und schüttelte der Schwalbe beide Hände. „Ich habe viel von Ihnen gehört!” – Sein Gesicht war alttestamentarisch würdevoll, mit großer, fleischiger, ziemlich platter Nase, und einem breiten, rund geschnittenen Vollbart, der früher rot gewesen sein mochte und jetzt eine merkwürdig rosa-graue Färbung zeigte. Siegfried Bernheim schien die Stattlichkeit in Person; stattlicher und imposanter als er konnte ein Mensch überhaupt nicht sein. Alles an ihm atmete eine gesunde, fröhlich-ernste Selbstzufriedenheit, die jedoch weit davon entfernt war, in einen lächerlichen Dünkel auszuarten. Ihm ließ sich ansehen, daß auch der Schicksalsschlag, der ihn nun betroffen hatte – der Verlust von Haus und Heimat: das Exil – sein solides inneres Gleichgewicht keineswegs hatte stören können. Das gesellige Heim im Grunewald hatte er fluchtartig verlassen müssen – denn er war den Nazis nicht nur als reicher Jude, sondern auch als Förderer links-gerichteter Künstler und Politiker besonders verhaßt –: Was schadete es? Es schadete wenig, so gut wie nichts. Er hielt Hofstaat auf der Terrasse dieses hübschen Cafés, und übrigens würde er bald eine geräumige Wohnung in Passy beziehen. Er hatte nur wenig Geld verloren. „Verhungern werde ich in absehbarer Zeit nicht müssen”, gab er zu. – Die Comités für jüdische und politische Flüchtlinge erhielten keineswegs überwältigend große, aber doch erfreuliche Gaben von ihm. Er war von liberaler Gesinnung, nicht ohne vorsichtige Sympathie für gemäßigt sozialistische Ideen. Seine Feinde und einige seiner Freunde, hatten ihn den „roten Millionär” genannt, was er sich mit Schmunzeln gefallen ließ. Ein wohlmeinender, ziemlich intelligenter, fortschrittlich gesinnter Herr: mußte man nicht froh und dankbar sein, daß es ihn gab? Daß er hier, im braunen flauschigen Paletot, vor seinem schwarzen Kaffee mit Benedictiner saß, und die neuen Gäste fragte: „Was darf ich für Sie bestellen, meine Herrschaften?” Es amüsierte ihn, daß David Deutsch nur heiße Milch haben wollte. Die Herren Mathes und Hummler entschieden sich für Bier und etwas zu essen; Bernheim schlug Würstchen vor, weil es an die Heimat erinnerte. Mit Marcel versuchte er französisch zu reden. „J’ai – lu – un – de vos livres … Très beau –: en effet, très beau. – – Très originel”, sagte er noch. „Quelque chose de très nouveau!” Und er strich sich den rot-grau melierten Bart, durchaus befriedigt von seiner kleinen Ansprache in fremder Zunge. Als aber Marcel seinerseits zu sprechen anfing, mit unbarmherziger Geschwindigkeit, Literatenjargon und Apachen-Argot vermischend, fiel es dem Bankier doch recht schwer, zu folgen. Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; sagte mehrfach: „Très interessant!”, und wandte sich schließlich, serenissimushaft seine Gnaden verteilend, an Mathes: „Ich höre, Sie sind ein vorzüglicher Internist, Herr Doktor … wie war doch der Name?” –
Marion berichtete in hochdramatischer Form von dem zugleich beschämenden, grotesken und erfreulichen Abenteuer, das sie vor einer Stunde, zusammen mit den Freunden, in dem kleinen Restaurant, rue des Saints Pères, gehabt hatte.
„Wie aufregend das schöne Kammer-Mädchen zu flunkern versteht!” sagte Bernheim herzlich anerkennend. „Das war eine Leistung, Marion! Erlauben Sie, daß ich Ihnen noch einen Black-and-White kommen lasse?” Marion ärgerte sich. „Ich habe nichts übertrieben! Du kannst es bestätigen, Schwalbe – und du, Martin –: Es ist alles genau so gewesen!”
Ein Herr mit mongolisch schmalen, schiefgestellten Augen sagte achselzuckend: „Marion hat eine recht amüsante, aber doch keineswegs erstaunliche Geschichte erzählt. Ich begreife die Aufregung der Herrschaften nicht. Selbstverständlich ist Deutschland heute enorm unbeliebt; übrigens ist es niemals beliebt gewesen. Die zivilisierten Nationen haben Deutschland im Grunde immer verabscheut. Sie bewiesen einen guten Instinkt.”
„Aber erlauben Sie mal!” begann Theo Hummler drohend – dabei schob er den Teller von sich und wischte sich mit der Papierserviette den Mund: es machte den besorgniserregenden Eindruck, als sei er eisern entschlossen, eine ausführliche Diskussion zu beginnen. „Erlauben Sie mal –: angenommen sogar, was Sie da behaupten, stimmt! Sie stellen es mit dem Ton einer entschiedenen Befriedigung fest. Die sogenannten zivilisierten Mächte hätten einen guten Instinkt bewiesen, als sie Deutschland herabsetzten? Offen gesagt, sowas begreife ich nicht! Deutschlands Beitrag zur Weltkultur” – Theo Hummler hatte den Ton eines Versammlungsredners, der sich eines nicht grob-demagogischen, sondern eines gebildet-maßvollen Jargons befleißigt –: „Deutschlands kulturelle Leistung kann den Vergleich mit der Leistung jedes anderen Landes wohl aushalten … Das Land Goethes und Kants …”
Hier hatte der Herr mit den gescheiten Mongolen-Augen eine kleine, abwinkende Bewegung, die es dem braven Hummler durchaus verbot, weiter zu reden. „Lassen Sie doch die Herren Kant und Goethe, der Abwechslung halber, beiseite!” bat er hochmütig. Sein intelligentes Gesicht blieb merkwürdig starr, was mit seiner Angewohnheit, die Zigarette beim Sprechen im Mundwinkel zu behalten, zusammen hängen mochte. „Was haben die Deutschen mit Kant und Goethe zu tun? Über die Beziehung – oder vielmehr: Nicht-Beziehung – der Deutschen zu ihren großen Männern können Sie sehr aufschlußreiche Bemerkungen bei einem Autor finden, der in Dingen der Psychologie einigermaßen beschlagen war. Nietzsche kannte sich aus …”
„Nietzsche! Nietzsche!” wiederholte, höhnisch und aufgebracht, der Mann vom Volksbildungswesen. „Sie berufen sich auf den Machtphilosophen, den Liebhaber der blonden Bestie, den ausgesprochen prä-fascistischen Typus!”
Der andere zuckte wieder die Achseln. „Das ist dumm”, sagte er, unbewegten Gesichts, immer mit der Zigarette im Mundwinkel. „Leider einfach dumm.”
Theo Hummler war kein besonders empfindlicher Mensch; aber dieser Bursche ging ihm auf die Nerven. „Wenn Sie mich für einen Idioten halten”, sagte er beleidigt, „dann hat es wohl kaum noch Sinn, daß wir uns weiter unterhalten.”
Andere am Tisch hielten den Moment für gekommen, sich versöhnlich ins Gespräch zu mischen. Professor Samuel ließ die Orgel-Stimme hören: „Aber, meine Herren! Sie sind unverbesserlich!” Er hatte den Zeigefinger gehoben, als müßte