Während die Stimmen immer lauter wurden, rückte der junge Helmut Kündinger näher an Martin heran. „Mein Freund und ich”, sagte er leise, – und die Worte „Mein Freund” sprach er mit einer innig getragenen Betonung aus –, „haben in Göttingen so wundervolle Zeiten verlebt. In einem kleinen Zirkel, der sich nur aus wertvollen Menschen zusammen setzte, lasen wir gemeinsam Hölderlin und George, auch Rilke, aber den liebten wir weniger, er war uns zu weich, George hat die ganze herrliche Härte des Deutschtums, Hölderlin seine ganze unauslotbare Tiefe –: das pflegte mein Freund zu sagen. Ihm fielen immer so schöne Dinge ein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie er an Deutschland hing; wie … wie an einer Geliebten”, sagte Helmut Kündinger und sah Martin hilflos an. „Er liebte den Begriff ‚Deutschland’, deutsche Dichter und deutsche Landschaft viel mehr, als er irgend einen einzelnen Menschen geliebt hat.” Dabei gab es eine kleine Flamme, wie von Eifersucht, in Helmut Kündingers Blick.
„Liebte er Deutschland so sehr?” fragte Martin, ein wenig zerstreut. Er beobachtete Kikjou, der mit der Schwalbe sprach.
„Ja, er liebte es von ganzem Herzen,” bestätigte Helmut Kündinger ernst. „Obwohl er Nicht-Arier war. Darüber hatten wir uns niemals Gedanken gemacht. Plötzlich stellte sich dann heraus, daß sein Blut fast achtzigprozentig jüdisch war. Nun war seine Stellung unter den Kommilitonen natürlich erschüttert. Auch ich setzte mich Unannehmlichkeiten aus, weil ich weiter mit ihm verkehrte. Aber das schadete nichts. Schrecklich war nur, Zeuge seines inneren Zusammenbruchs zu sein. Mein Freund konnte seine neue Lage gar nicht fassen. Gerade er, der für die Härte und die Tiefe des deutschen Menschen so begeistert gewesen war, sollte sich nun als ein Ausländer – schlimmer: als ein Schädling – empfinden. Er fühlte sich furchtbar gedemütigt. Als dann ein paar junge Leute, die früher zum engen Zirkel unseres Verkehrs gehört hatten, ihn auf offener Straße beleidigten, geriet er ganz in Verzweiflung. Man muß sich das vorstellen: Man hatte Hölderlin und George miteinander gelesen, und nun schrieen sie ihm: Judensau! zu. Sie waren allerdings besoffen, als sie das taten; aber die Gemeinheit bleibt trotzdem unbegreiflich. – Ich weiß gar nicht, woher mein Freund den Revolver hatte. Und wieso konnte er eigentlich schießen?” Helmut Kündinger fragte es entsetzt und dringlich, als ob Martin im Stand wäre, ihm Antwort zu geben. „Er hat sich mitten ins Herz getroffen. Für mich hinterließ er nur einen Zettel: ‚Ich will dir nicht länger zur Last fallen.’ So bitter war er zum Schluß geworden.” Helmut verstummte. Seine blauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Martin wollte gerne irgend etwas Tröstliches äußern; es fiel ihm aber nichts ein. Der junge Mensch preßte sich ein großes, nicht ganz sauberes Taschentuch vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken. In das Taschentuch hinein sprach er – man konnte seine Worte kaum noch verstehen –: „Seitdem das geschehen ist, kam mir in Göttingen alles so beschmutzt vor … Ich konnte es gar nicht mehr aus-halten. Und als ich zu meinen Eltern nach Westfalen fuhr, war es dort auch nicht besser. Die Heimat war mir verleidet. Ich mußte weg – ich mußte einfach weg … Verstehen Sie mich doch bitte!”
„Ich verstehe Sie”, sagte Martin. –
Die Schwalbe begrüßte mit großem Hallo, Kuß und Umarmung ein blondes junges Mädchen, das eiligen Schrittes vorüber kam. „Meisje!” jubelte die Alte. „Bist du auch hier! Nein, so was!” – Meisje war Stammgast bei der Schwalbe gewesen: „das prachtvollste Geschöpf, das ich je gekannt habe!” – wie die Wirtin dem ganzen Kreise enthusiastisch versicherte. Wirklich sah sie sehr prachtvoll aus, mit ährenfarbenem Haar und hellen Augen, die sowohl sanft als entschlossen blickten. Bankier Bernheim schmunzelte; die Herren Mathes und Hummler schienen gleich Feuer und Flamme. Ilse Ill, mit der Beide bis zu diesem Moment in bescheidenen Grenzen geflirtet hatten, saß plötzlich unbeachtet mit ihrer Reitpeitsche und ihrem zu bunten Gesicht. Sie ließ sich gehen, stützte die Stirn in die Hände und sah müde aus. Es fiel auch auf, daß ihr Abendkleid recht aus der Mode und stellenweise zerschlissen war. Wahrscheinlich trug sie es nur, weil sie durchaus nichts anderes anzuziehen hatte. Durch die Reitpeitsche hoffte sie wohl, ihrem reduzierten Aufzug eine flotte, exzentrische Note zu geben.
Der einsame Schachspieler am Nebentisch erhob sich und schob die Figuren weg, wobei er noch einmal den erloschenen Blick über die Gesellschaft hinschickte.
Professor Samuel, der mehrere Gläser Pernod Fils getrunken hatte, bemerkte schwermütig: „Ach, meine Freunde – was steht uns bevor? Was beginnt nun? Welche Überraschungen hat das Schicksal noch für uns bereitet?” Seine alten Augen, deren Lider sich leicht entzündet hatten, spähten angestrengt ins Weite und Ferne, als könnten sie dort erkennen, was den anderen noch verborgen blieb.
„Nanu”, sagte Doktor Mathes, „das klingt ja ganz melodramatisch!” – Und Bernheim, der die Rechnung studierte, bemerkte zerstreut: „Es wird schon irgendwie gehen …”: niemand wußte, ob er auf die bevorstehenden Schicksals-Fügungen anspielte, oder ob er nur sagen wollte, daß er genug Geld bei sich habe, um die Rechnung zu begleichen, die er übrigens erstaunlich hoch fand. Bobby Sedelmayer, mit einer Heiterkeit, die ein wenig künstlich klang, fügte hinzu: „Dann also Prost!” – wobei er sein Glas hob. Aber niemand tat ihm Bescheid. Die Meisten hatten wohl schon ausgetrunken.
Während der Kreis sich langsam auflöste, rief Fräulein Sirowitsch beinah flehend: „Ich wünsche mir, daß wir alle recht bald wieder hier zusammenkommen!” Sie lächelte Nathan-Morelli zu, der mit David Deutsch über englische Lyriker sprach und sie nicht beachtete. Die Schopenhauer-Übersetzerin sagte noch, mit einem unheimlich kalten Jubel in der Stimme – vielleicht nur, um Nathan-Morellis Aufmerksamkeit doch noch auf sich zu ziehen –: „Ist Paris nicht schön? Nur hier kann ich mich so recht eigentlich wohlfühlen!” Niemand antwortete. Theo Hummler sprach verschwörerisch leise zur Schwalbe: „Morgen vormittag treffe ich ein paar sehr wichtige Leute aus Berlin, zuverlässige Kameraden. Wollen Sie auch dabei sein?”
Martin trat zu Kikjou, der als Einziger am Tisch sitzen geblieben war, merkwürdig regungslos vor seinem geleerten Glase. „In welchem Quartier wohnen Sie?” fragte Martin, und er fügte mit einer etwas matten Hoffnung hinzu: „Vielleicht haben wir den gleichen Heimweg …” – Kikjou aber erwiderte, ohne das müde, kindliche Gesicht von den Händen zu heben: „Merci mille fois. Ich begleite Marcel.” – Martin zog sich schweigend zurück. Er trat erhobenen Hauptes, die weichen Lippen pikiert gegeneinander gepreßt, auf den Boulevard hinaus, wie einer, der sich bewußt ist, eine Niederlage erlitten zu haben, aber seinen Stolz darein setzt, sie mit Würde zu tragen.
Plötzlich stand Marcel hinter Kikjou; auf leisen Sohlen war er herangekommen. „Comment vas-tu, mon choux?” fragte er, und legte beide Hände auf Kikjous Schultern. Der erwiderte, ohne sich umzudrehen: „Merci, mon vieux. Pas mal du tout.” „Ich muß Marion nach Hause bringen”, erklärte Marcel, mit einer leichten Wendung des Hauptes zu der schlanken, unruhig sich bewegenden Gestalt hin, die auf dem Boulevard seiner wartete.
„Ach so”, sagte Kikjou. „Dann gehe ich also allein.”