Nathan-Morelli, die Zigarette im Mundwinkel, neigte gravitätisch das Haupt. „Stimmt Wort für Wort”; dabei schüttelte er seinem Freund Samuel über den Tisch hin die Hand.
„Es wäre wirklich äußerst abgeschmackt und töricht, wenn wir uns weiter zanken wollten”, sagte Samuel noch. „Wir sitzen hier, wie die Schiffsbrüchigen auf einer wilden Insel, und es hat wirklich keinen Sinn mehr, sich gegenseitig in den Haaren zu liegen. Die Emigration ist eine ernste Sache. – Seht euch den da an!” Er zog seinen Stuhl näher an den Tisch und dämpfte vertraulich die sonore Stimme. Dabei deutete er mit dem Daumen hinter sich, über die Schulter. Dort saß ein weißhaariger Herr mit feinem, müden Gesicht und spielte, das Kinn sinnend in die Hand gestützt, eine Partie Schach mit sich selber. Der Herr hatte schöne, lange, aristokratische Hände; aber über den Gelenken waren die etwas zu kurzen Ärmel seines schäbigen Jacketts ausgefranst. – „Das war einmal einer der reichsten Männer von Ungarn”, berichtete Samuel leise. „Ihm hat so viel Land gehört, wie einem einzelnen Menschen überhaupt nicht gehören dürfte. Übrigens schien er selber zu finden, daß er gar zu viel Grund und Boden besitze. Denn als die Revolution kam, wurde er der Chef einer demokratischen Regierung und verteilte seine enormen Güter an die Bauern. Vielleicht hätten ihm seine Standesgenossen zur Not verziehen, daß er republikanischer Ministerpräsident gewesen war; aber daß er seine Ländereien weggeschenkt hatte, war eine Todsünde … Der demokratische Graf mußte fliehen, als die Bolschewisten in Budapest regierten – und er konnte nicht zurück, als die Fascisten kamen, die sich damals noch anders nannten. Die ‚Weißen’ hätten ihn aufgehängt, wie die ‚Roten’. Nun sitzt er seit beinah fünfzehn Jahren in Paris. Zu Anfang hat er noch politische Diskussionen geführt und Meetings besucht. Jetzt spielt er beinah nur noch Schach, meistens mit sich selber. – Er soll ein recht guter Schachspieler sein”, schloß der Professor wehmütig seinen Bericht.
„Emigrantenschicksal …”, sprach Herr Bernheim mit der angenehm geölten Stimme; dann machte er eine kleine Geste mit beiden Händen, als wollte er etwas Unangenehmes wegschieben, und erkundigte sich leutselig, ob die Herrschaften noch etwas zu trinken wünschten. Der verbannte Graf am Nebentisch, der Samuels Erzählung vielleicht gehört hatte oder mindestens spürte, daß von ihm die Rede gewesen war, hob den Kopf und schickte aus seinen tiefliegenden blauen Augen einen erloschenen Blick über die Runde hin.
Da der freundliche Bernheim so freigebig die Getränke spendete, wurde die Unterhaltung an seinem Tisch immer lebhafter. Übrigens erweiterte sich der Kreis; lawinenartig wuchs die Gesellschaft, die sich auf des Bankiers Kosten an Whisky oder rotem Wein erlabte. Zwei jüngere Journalisten, die mit ihren großen runden Brillengläsern und den hackenden Bewegungen ihrer schmalen Köpfe einem Paar von seltsamen, nicht ungefährlichen Vögeln glichen, brachten eine ernste Dame mit, deren schneeweiß geschminktes, starres und schönes Gesicht von undefinierbarem Alter war. Die Dame hieß Fräulein Sirowitsch und erklärte düster: „Ich übersetze Schopenhauer ins Französische.” Die beiden Journalisten mit den Vogel-Häuptern verkündeten, daß sie im Begriffe seien, eine deutsche Tageszeitung in Paris aufzumachen. „Sowas brauchen wir jetzt!” riefen sie siegesgewiß, wie aus einem Munde, und alle am Tische gaben ihnen recht. „Ich werde das Feuilleton redigieren!” versprach der eine, und rieb sich die Hände, als freute er sich jetzt schon darauf. Der andere, der ihm wie ein Zwillingsbruder glich, fügte hinzu: „Ich leite die Politik!” Alle nahmen diese Neuigkeiten mit lebhaftem Interesse auf. Nur Herr Bernheim wollte nicht recht hinhören; er war zwar von Herzen gerne dazu bereit, im großem Stil Erfrischungen zu bezahlen; aber ihm graute doch ein wenig davor, gleich eine Tageszeitung zu finanzieren. Auch Bobby Sedelmayer wurde unruhig. Bernheim gehörte ihm; was an Geld aus ihm herauszuholen war, sollte in das Nachtlokal gesteckt werden. Nun auch noch eine Zeitung! Schließlich konnte Bernheim nicht für Alles aufkommen! Fräulein Sirowitsch sagte zu Herrn Nathan-Morelli, der ihr, die Zigarette im Mundwinkel, mit etwas verächtlicher Galanterie lauschte: „Manche Dinge bei Schopenhauer sind unübersetzbar. Er benutzt Wendungen, die sich in keiner anderen Sprache wiedergeben lassen.” Theo Hummler versicherte der Schwalbe: „Ich hatte prachtvolles Menschenmaterial in meinen Volksbildungs-Kursen. Der Wissensdrang dieser jungen Leute, die tagsüber in den Fabriken arbeiten, hat geradezu etwas Rührendes. Was wir in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut haben, wird nun grausam zerstört …” – Plötzlich war auch noch ein junges Mädchen in schwarzem Abendkleid da. „Ich heiße Ilse Ill”, stellte sie sich selber vor. „Ich bin Kabarettistin”, fügte sie hinzu und lachte triumphierend. Überraschender Weise schwenkte sie eine Reitpeitsche mit Silbergriff, als wäre sie, hoch zu Rosse, über die Boulevards heran gesprengt gekommen, von ihrer schwarzen Robe umflattert wie die Göttin von einer Wolke. „Gestern habe ich noch in Berlin gesungen”, rief sie aus, und blickte drohend um sich, gleichsam fragend: Wagt hier jemand, mir zu widersprechen? – „Kolossalen Erfolg gehabt. – Na, damit ist vorläufig Schluß!” erklärte sie höhnisch, wie von einer wilden und närrischen Wut gegen sich selber und gegen ihr eigenes Schicksal ergriffen. – „Das scheint ja eine gewaltig überspannte Person zu sein”, flüsterte Herr Bernheim dem Professor Samuel zu. Er traf nicht die mindesten Anstalten, ein Getränk für Ilse Ill zu bestellen: entweder, weil er es unpassend fand, daß sie sich selber vorgestellt hatte; oder einfach, weil sie ihm nicht sympathisch war. – „Sie ist aber ganz begabt”, raunte beschwichtigend Samuel. „Ich habe sie in Berlin einmal singen hören.” Das stimmte zwar nicht; aber der Professor wollte Frieden und gute Stimmung am Tisch. Die Kabarettistin inzwischen schrie: „Kinder, ich habe Hunger!” Dabei bekam sie blutgierige Augen und legte sich die Hände dramatisch auf die Magengegend. Bernheim, ob er es gerne tat oder nicht, mußte auch für sie ein Paar Würstchen kommen lassen.
Marcel war in aller Stille an einen anderen Tisch gegangen, wo er in seiner eigenen Sprache plaudern konnte. Die etwas wirre Konversation der Deutschen war ihm mit der Zeit lästig und unverständlich geworden. Mit einem sonderbaren Vogelruf, der halb klagend und halb lockend klang, rief er nun Marion herbei, um sie seinen Freunden vorzustellen.
Kikjou, der lange Zeit schweigend neben der Schwalbe gesessen hatte, sagte plötzlich: „Wenn ich diesen ungarischen Grafen da am Nebentisch anschaue, dann werde ich so traurig – so fürchterlich traurig … Ich denke mir, es wird euch allen – uns allen so ähnlich gehen … Am Schluß sitzen wir irgendwo mit ausgefransten Ärmeln und spielen Schach mit uns selber …” – „Was für ein Unsinn!” rief die Schwalbe, und fügte lachend hinzu: „Wir sind doch keine alten Grafen und haben keine Güter weggeschenkt, denen wir nachtrauern könnten!”
Martin schaute aufmerksam zu Kikjou hinüber, von dem er durch die ganze Breite des Tisches getrennt war. Kikjou erwiderte seinen Blick, still und ohne zu lächeln. Martin hätte gerne mit ihm gesprochen; aber eben stellte sich ihm der junge Deutsche vor, den Samuel auf der Terrasse der „Coupole” kennen gelernt hatte. „Mein Name ist Helmut Kündinger”, sagte der Junge, leise, als vertraute er dem anderen ein Geheimnis an. Dabei erhob er sich halb und schlug ein wenig die Hacken zusammen. „Sie sind auch Emigrant?” erkundigte er sich schüchtern.
Fräulein Sirowitsch war immer noch bei ihrer Schopenhauer-Übersetzung. „Wenn ich diese Arbeit getan habe,” sprach sie feierlich, „dann darf ich mir sagen: Martha, du hast nicht umsonst gelebt. – Ich heiße nämlich Martha”, fügte sie hinzu und lächelte Herrn Nathan-Morelli mit einer gewissen starren Vertraulichkeit zu. Er nickte, als wäre er auf eine Eröffnung dieser Art längst gefaßt gewesen. – „Wenn wir zehntausend Abonnenten haben, sind wir fein heraus!” erklärte einer von den Journalisten, und Ilse Ill, die ihre Würstchen bekommen hatte, rief unheilverkündend: „Vielleicht gründe ich ein literarisches Cabaret! Sehr wohl möglich, daß ich sowas mache! – Oder”, verbesserte sie sich – denn es war ihr ein neuer gräßlicher Einfall gekommen –, „vielleicht