Er atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen, und griff dann zum Handy. Mit irgendjemandem musste er über diesen Dreck reden und sich Rat holen!
»Hallo, Niklas!«, sagte er.
»Hallo, Ben!«, klang es freudig aus Norwegen zurück. »Schön, von dir zu hören! Wie geht’s denn so bei euch? Wie ist es als werdender Vater, und wie geht es Marie? Ist alles in Ordnung mit ihr und den Kleinen?«
»Ja, danke, gesundheitlich ist alles bis jetzt in Ordnung«, sagte Ben.
Darauf blieb es einen Augenblick lang still am Telefon, dann fragte Niklas vorsichtig nach: »Gesundheitlich? Ist denn – irgendetwas anderes nicht in Ordnung bei euch?«
»Kann man wohl so sagen!«, knurrte Ben. Und dann erzählte er seinem besten Freund von den Briefen und seinem großen Dilemma, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.
»Hmm«, überlegte Niklas, »ist es denn wirklich so schlimm, dass du überlegst, Marie jetzt damit behelligen zu müssen? Oder sind es vielleicht nur die Schwärmereien eines verknallten Teenies, die sich in dich verguckt hat?«
»Das ist keine harmlose, dumme Teenagerschwärmerei, das hier ist eine ganz andere Hausnummer!«, wetterte Ben. »Kleine Kostprobe gefällig?«
Er las seinem Freund die Briefe vor.
Zunächst herrschte betroffenes Schweigen am anderen Ende der Verbindung. Dann kam ein: »Mann, was für eine Gemeinheit!« Niklas schluckte hörbar. »Wer immer das auch geschrieben hat, verdient nur das Allerschlechteste! Ich kann verstehen, dass du Marie mit diesem Schmutz nicht belästigen willst, aber wahrscheinlich kommst du nicht darum herum. Du hast überhaupt keine Ahnung, wer dahinter stecken könnte?«
»Nein, ich kenne niemanden, dem ich etwas derart Gemeines zutraue«, antwortete Ben. Dann zögerte er kurz. »Warte mal …, da gibt es eine Freundin von Marie, die sich bei unserer Hochzeit ziemlich daneben benommen und sich an mich herangemacht hat. Aber irgendwie …«, er unterbrach sich und schüttelte dann den Kopf. »Nein, vergiss es. Sie hatte wohl nur etwas zu viel getrunken und war neben der Spur. So eine Gemeinheit wie diese Briefe, das ist ja schon richtig bösartig, nein, das traue ich Lisa nicht zu. Außerdem ist sie Maries Freundin. Und wenn ich es mir so überlege: Sie ist zwar nicht mein Fall, aber wenn sie in der letzten Zeit hier zu Besuch war, dann war sie eigentlich ganz nett und immer freundlich und fürsorglich gegenüber Marie. Das auf der Hochzeit ist wirklich nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Wir sollten es nicht dem Zeug hier in Verbindung bringen, das ist nicht richtig!«
»Mensch, Kumpel, es tut mir leid, dass du dich ausgerechnet in dieser Zeit damit befassen musst!«, meinte Niklas. »Und ich finde es gut, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast. Du wolltest meinen Rat, und hier ist er: Rede mit Marie! Eigentlich hättest du es schon längst tun sollen. Ich finde es auch schlimm, sie jetzt mit solchen Dingen belästigen zu müssen, aber es geht nicht anders. Stell dir nur mal vor, sie findet einen dieser Briefe! Natürlich wird sie dir glauben, dass nichts dran ist an diesem Mist, aber verletzen wird sie es schon. Euer gegenseitiges Vertrauen ist euer stärkster Schutz! Du solltest ihr nichts verschweigen, selbst wenn es erst einmal unangenehm sein wird. Und an deiner Stelle würde mir auch überlegen, damit zur Polizei zu gehen und Anzeige gegen Unbekannt zu stellen!«
»Oh, Mann, und das macht dann die Runde durchs ganze Dorf!«, seufzte Ben entsetzt.
Niklas lachte leise. »Tja, Dienstgeheimnis und Buschtrommel heben sich wohl gegenseitig auf. Aber vielleicht muss es gar nicht so weit kommen, vielleicht gibt diese …, diese Schlampe einfach auf.«
»Hoffen wir’s, aber ich glaube es eher nicht!«, antwortete Ben düster.
Niklas wollte seinen Freund ein wenig aufheitern und meinte: »Hey, hast du eigentlich bemerkt, dass ich dich mit keiner Silbe gefragt habe, ob an dieser Geschichte auch ein Fünkchen Wahres ist?«
»Dann, mein Lieber, wäre kein norwegischer Fjord tief genug gewesen, um dich darin vor mir zu verstecken!«, brummte Ben mit einem Lachen in der Stimme. »Und ich wäre schneller dort gewesen, als du bis drei zählen kannst!«
»Werd’s mir merken!«, grinste Niklas. »Mach’s gut, Kumpel! Pass auf dich auf, und grüß Marie von mir. Und wenn was ist, melde dich!«
»Danke, Niklas, und gute Nacht.«
Benjamin schob den Brief vorläufig zu den anderen nach ganz hinten in die Schublade. Dann machte er die übliche Abendrunde, bei der er Fenster und Türen im Erdgeschoss vor der Nacht verschloss und die Lichter löschte. Anschließend ging er ins Bad und half Marie aus der Wanne. Zärtlich trocknete er sie ab, legte sie auf ihr Bett und begann, ihren schönen, gerundeten Körper mit einem duftenden Öl zu massieren.
»Mmmmmh!« Marie schnurrte wie eine kleine Katze, und dann gähnte sie ausgiebig. »Wenn du wüsstest, wie gut und entspannend sich das anfühlt«, murmelte sie mit geschlossenen Augen. »Ich bin … schon … fast eingeschlafen.«
»Das sollst du auch, mein Herz«, antwortete Ben leise. Er drückte zwei Küsse auf Maries Bauch, für jedes Baby einen, dann deckte er zärtlich die alten, spitzenbesetzten Leinentücher über seine Frau. »Schlaf gut, Liebste.«
Er legte sich neben sie ins Bett, zog sie sanft in seine Umarmung und legte seine Wange gegen ihren Kopf. Wie oft waren sie so eingeschlafen, Marie an seine Brust gekuschelt und er mit seinem Gesicht im Duft ihrer seidigen Haare. Ben lauschte ihren ruhigen, regelmäßigen Atemzügen und wünschte verzweifelt, er könnte den gleichen friedlichen Schlaf finden wie seine Frau.
Aber so war es nicht.
Die Gemeinheiten der Briefe mischten sich mit der Erinnerung an Niklas‘ Worte. Er wusste, dass er mit seiner Frau reden musste, ganz dringend, aber er konnte es nicht übers Herz bringen. Wie widerwärtig die unbekannte Schreiberin über Marie redete! Er konnte es ihr einfach nicht antun, diesen Dreck lesen zu müssen.
*
Als der junge Zimmermann für drei Tage zu einem Auftrag fort musste, der ihn bis in die Alpen führte, schickte Lisa wieder einen Brief. Sie wusste, jetzt würde Marie die Post selbst entgegen nehmen!
Am dritten Tag, einem dunklen, stürmischen Herbsttag, der ein aufziehendes Unwetter in sich barg, fuhr Lisa zum Ebereschenhof hinaus, um genau dann dort zu sein, wenn der Kräutner Michl die Post abliefern würde.
Es war früher Nachmittag und unverhältnismäßig dunkel, weil dicke, schieferfarbene Wolken den Himmel bedeckten. Heftige Sturmböen peitschten den Regen gegen die Autoscheiben und verschlechterten die Sicht von Augenblick zu Augenblick. Der Wetterbericht im Autoradio kündigte Wind in Orkanstärke und sturzbachartige Regenfälle an.
»Verdammter Mist!«, fluchte Lisa, als sie sich am Sternwolkensee vorüber kämpfte. Wasser und Himmel schienen zu einer einzigen, wild bewegten Fläche zu verschwimmen. Wild bogen sich Bäume und Sträucher unter der Gewalt des Windes, und abgerissene Äste trieben über die Straße. »Das ist ja kaum zu schaffen! Ich glaube, ich kehre lieber wieder um, ehe das Wetter noch schlimmer wird.« Mühsam wendete sie den Wagen und fuhr langsam in den Ort zurück. Sie stellte das Auto in der sicheren Garage ab und lief so schnell sie konnte ins Haus, dennoch wurde sie durch und durch nass. Heute war wirklich kein Wetter, um sich draußen aufzuhalten!
Nach einer warmen Dusche zog Lisa bequeme Kuschelsachen an, kochte sich Tee mit reichlich Zucker und einem guten Schuss Rum und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Warum die anstrengende und sogar gefährliche Fahrt zum Ebereschenhof auf sich nehmen, es gab ja schließlich auch das Telefon!
Marie meldete sich, noch ehe der erste Klingelton verklungen war. »Ben? Ben, bist du das?«, fragte sie atemlos.
»Nein, hier ist nicht Ben. Ich bin’s, Lisa«, antwortete die junge Frau.
»Ach, Lisa, du bist es. Hallo!« Maries Stimme klang eindeutig enttäuscht und ängstlich.
»Marie? Ist etwas passiert? Du klingst so komisch«, meinte Lisa.
»Entschuldige!«, kam es prompt zurück.