Anschließend ging sie in ihren Salon hinunter, ein wenig stiller als sonst und sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt. Lisa malte sich aus, wie sie die Fotos von Ben am besten einsetzen konnte, um den größten Schmerz zu verursachen…
*
Ben und Marie hatten kaum den Ebereschenhof erreicht, als der junge Mann den nächsten roten Brief entdeckte. Es war der bösartigste von allen.
Nach der ausführlichen Schilderung ausschweifender Sexszenen, die sich angeblich zwischen dem Mann und der Schreiberin abgespielt haben sollten, beschrieb die Frau Zukunftspläne für sich und Ben. Dabei verhöhnte und verspottete sie die ahnungslose Marie aufs Übelste.
Benjamin knirschte mit den Zähnen. Es zerriss ihm das Herz, seiner Frau diese Gemeinheiten zu lesen zu geben, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er nahm allen Mut zusammen, ging zu Marie, die gerade dabei war, Gardinen für das Kinderzimmer mit weißer Baumwollspitze zu verzieren, und sagte mit zitternder Stimme: »Marie? Wir müssen miteinander reden.«
Beunruhigt von seinem Tonfall und seinem gequälten Gesichtsausdruck schaute Marie ihn an. »Ben, was ist denn passiert?«
»Ich …, es … sind Briefe gekommen«, antwortete er stockend. »Briefe mit so vielen Gemeinheiten und so viel Dreck. Ich wollte nicht, dass du sie liest, aber … so geht es nicht weiter. Niklas meinte auch, dass du Bescheid wissen musst. Es …, es tut mir leid, es tut mir so leid, mein Herz!«
Marie nahm die Briefe und begann zu lesen. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, und sie wurde kreidebleich. »Das ist unmöglich!«, stammelte sie. »Das …, wer …, aber warum?« Ihre Augen waren große, dunkle Löcher der Qual in ihrem weißen Gesicht.
»Ich weiß es nicht! Marie, ich schwöre, ich weiß nicht, wer diese Briefe schreibt!« Ben war vor seiner Frau auf die Knie gesunken und umfasste ihre eiskalten Hände. »Und ich habe auch keine Ahnung, warum diese Unbekannte es tut!«
»Sie sagt, du wirst mich verlassen«, flüsterte Marie beinahe tonlos.
»Keine Ahnung, wie irgendjemand auf diese Idee kommen kann!«, rief Ben verzweifelt. »Ich wollte dich vor diesem widerlichen Dreck bewahren, aber ich glaube, es ist besser, wenn du darüber informiert bist. Marie, Marie! Schau mich an! Bei allem, was mir heilig ist, schwöre ich, dass ich nichts von dem, was hier steht, getan habe oder zu tun beabsichtige!«
»Das weiß ich doch!« Trotz ihrer Tränen und ihres Schocks gelang Marie ein kleines Lächeln. »Das weiß ich! Es ist nur so furchtbar, es geschrieben zu sehen, das macht es so … wichtig.«
»Wichtig ist nur, dass du und ich zusammenstehen, und uns dieser Schund nichts antun kann!«, rief Ben leidenschaftlich aus. »Wir müssen entscheiden, was wir mit den Briefen tun. Sollen wir damit zur Polizei gehen und Anzeige erstatten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Marie benommen. Ihr war übel, und ihr Herz raste. Es hatte so unfassbar wehgetan, das zu lesen, was ihre größte Angst in Worte fasste: Benjamin zu verlieren! Sie war schon einmal so betrogen worden, und das ein zweites Mal zu erleben, würde über ihre Kräfte gehen.
Die Kinder! Der Gedanke an die Zwillinge und daran, wie herzlos und grausam die Unbekannte über die Schwangerschaft geschrieben hatte, entfachte eine lodernde Wut in Marie. Wie konnte es jemand wagen, sich so in ihre Familie zu drängen!
»Wir gehen nicht zur Polizei!«, sagte sie entschieden. »Was kann sie denn bei Anzeige gegen Unbekannt schon tun? Dann beginnen hier Ermittlungen, und sofort weiß das ganze Dorf Bescheid. Die Leute haben ein langes Gedächtnis. Stell dir mal vor, später erzählt jemand den Kindern davon!
Nein, keine Polizei, hier geht es nicht um Erpressung. Hier will uns jemand beunruhigen und zutiefst verletzen. Und diese Genugtuung werden wir der Person nicht bieten!
Weißt du, was wir tun? Wir werden jeden neuen Brief, der kommen sollte, nicht beachten und ungelesen vernichten! Und diese hier werden wir jetzt gemeinsam im Ofen verbrennen! Irgendwann wird der Unbekannten ihr gemeines Spiel zu langweilig werden, wenn sie merkt, dass von uns gar keine Reaktion kommt!«
Hingerissen schaute Ben seine Frau an. Marie hatte sich erhoben und stand wie ein dunkler Racheengel in der Stube, mit flammenden Augen und buchstäblich gesträubten Haaren. So böse hatte er sie noch nie erlebt!
»Mach die Ofenklappe auf!«, befahl sie.
Ben öffnete die Tür des alten Kachelofens, in dem die Glut nur noch schwach glomm. Mit knappen, energischen Bewegungen schürte Marie das Feuer und wartete ungeduldig, bis es hell aufloderte. Dann warf sie die Briefe mitten hinein, nahm den Schürhaken und drückte das Papier tief in die Flammen. Mit grimmiger Befriedigung schaute das Paar zu, wie die Briefe Feuer fingen, sich krümmten, schwarz verfärbten und zu heißer Asche zerfielen.
Maries Wangen waren von der Hitze gerötet, und ihre Augen funkelten. Prüfend schaute sie ihren Mann an. »Waren das alle?«, fragte sie schneidend. »Oder gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Himmel, nein!«, rief Ben erschrocken aus. »Es gibt keine anderen Briefe! Das heißt, es gab noch einen, den ersten. Aber den habe ich gleich vernichtet, weil ich an einen geschmacklosen Scherz glaubte. Ich dachte nicht, dass noch weitere kommen würden.«
»So, den ersten also …«, sagte Marie gedehnt. Ihre Augen waren immer noch viel zu dunkel. »Und wann wolltest du mir von dem erzählen?«
»Am liebsten gar nicht«, antwortete Ben unglücklich. »Du bist schwanger und hast selbst gesagt, wie verletzlich du dich fühlst. Ich wollte dich mit diesem Blödsinn nicht belästigen.«
»Genau! Und deshalb hast du wochenlang nichts zu mir gesagt!«, warf Marie ihm voller Bitterkeit vor. »Wo bleibt denn da das Vertrauen?«
»Das hatte nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun, das war Rücksichtnahme!«, verteidigte sich Ben.
»Rücksichtnahme oder … Feigheit?«, sagte Marie spitz.
Dieser Vorwurf machte Benjamin sprachlos.
Seine Frau bemerkte seine Reaktion und zuckte mit den Schultern. »Mit mir konntest du darüber nicht reden, aber mit Niklas schon. Der Freund erfährt vor der eigenen Frau von dieser Geschichte! Was meinst du, wie ich mich dabei fühle?«
»Marie!« Schockiert starrte Benjamin seine wütende Frau an. Dann atmete er ein paar Mal tief durch und zwang sich zur Ruhe. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, sagte er. »Die Gemeinheit in den Briefen konnte uns nichts anhaben, aber jetzt streiten wir uns darüber, dass ich dir erst so spät davon erzählt habe?«
Marie begegnete seinem traurigen Blick, und ihre Wut löste sich langsam in Luft auf. Sie ließ sich in seine weit geöffneten Arme sinken und barg ihren Kopf an seiner Brust. »Wie recht du hast!«, murmelte sie irgendwo zwischen Lachen und Weinen. »Das ist ganz und gar unmöglich! Wie kommen wir nur darauf?«
Ben wiegte sie sacht in seinen Armen. »Unsere Nerven liegen blank, da ist es kein Wunder, dass wir zu streiten beginnen, obwohl es dafür keinen Grund gibt.«
Marie schauderte in seinen Armen. »Es ist ein bisschen so, als ob die Briefschreiberin doch Erfolg damit hatte, Zwietracht zwischen uns zu säen«, sagte sie leise.
»Nein, mein Herz, das ist ihr überhaupt nicht gelungen!«, widersprach Benjamin bestimmt. »Die Briefe und die ganze Gemeinheit sind zu Asche verbrannt, und unser Streit eben war ein ganz normales Geplänkel unter Eheleuten! Du weißt schon: Ich habe gesagt und dann hast du gesagt und so weiter und so fort.
Alles ist gut!
Und weil das Feuer im Kachelofen jetzt so schön brennt, mache ich uns Bratäpfel in der Ofenröhre. Dazu gibt es Vanillesauce, und du setzt dich jetzt gemütlich in den Sessel, legst die Beine hoch und erzählst den Kindern vom Rezept deiner Mama, damit sie sich später daran erinnern können und wissen, wie man richtig altmodische Bratäpfel macht.« Verschmitzt blinzelte er seiner Frau zu, platzierte einen Kuss auf ihrer Nasenspitze und verschwand nach nebenan in die Küche.
Marie