»Na, er ist doch jetzt auf dem Heimweg, und das Wetter wird immer schlimmer! Im Radio warnen sie vor umstürzenden Bäumen; wenn ihm nur nichts passiert!«, sagte Marie mit zitternder Stimme.
»Das wird schon gut gehen«, erwiderte Lisa so tröstlich, wie es ihr möglich war. »Er ist doch ein erfahrener und umsichtiger Autofahrer.«
»Und was nützt ihm das, wenn ein Baum auf seinen Wagen kracht?«, klagte Marie.
»Jetzt mach dir doch nicht solche unnötigen Sorgen, es wird ihm schon nichts passieren! Und falls das Wetter zu schlimm wird, ist er doch vernünftig genug, sich unterwegs ein Zimmer zu nehmen, wirst schon sehen!
Komm, lass uns mal von etwas anderem reden. Du, stell dir vor, ich hatte heute einen ganz irren Katalog in der Post! Der muss von einem Versandhaus für sexy Wäsche und Spielzeug für Erwachsene kommen – du verstehst schon«, improvisierte Lisa drauflos. »Keine Ahnung, wie die an meine Adresse gekommen sind! Hast du vielleicht zufällig auch etwas von denen in der Post gehabt?«
»Wie bitte? Nein«, antwortete Marie zerstreut. »Nur unsere Wochenzeitschrift und ein paar Briefe.«
»Was denn für Briefe? Vielleicht sieht deine Post von denen ja anders aus als meine, guck doch mal nach!«, drängte Lisa. »Wir könnten die Sachen vergleichen, und dann haben wir was zu lachen. Lachen tut dir gut, Sorgen machen nicht!«
»Wenn du meinst.« Marie klang nicht gerade begeistert, aber offensichtlich griff sie nach den Briefen, denn Lisa hörte ein leises Rascheln. Wie spannend!
»Also, da ist nichts«, erklang wieder die Stimme der jungen Frau. »Nur zwei geschäftliche Sachen, wahrscheinlich Rechnungen, eine Werbung für Holzschutzmittel und ein kleiner, roter Brief, aber der sieht privat aus.«
»Das ist ja interessant!«, flötete Lisa. »Wie genau sieht er denn aus und an wen ist er adressiert?«
»Klein, rot, und er ist an Ben gerichtet. Ohne Absender«, informierte Marie sie.
»Spannend!« Lisa lachte. »Mach ihn doch auf.«
»Wieso? Er ist an Ben adressiert«, wiegelte Marie ab.
»Och, ihr seid verheiratet, da hat man doch keine Geheimnisse voreinander!«, tat Lisa ganz unbedarft.
»Nein, Geheimnisse nicht, aber eine gewisse Privatsphäre schon!«, erwiderte Marie bestimmt. »Ich öffne seine Briefe nicht unaufgefordert! Und bitte sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt auflegen. Vielleicht ruft Ben an und sagt, wo er gerade ist. Tschüss, Lisa, und danke für deinen Anruf.«
»Tschau, tschau«, konnte sie gerade noch flöten, dann war die Verbindung unterbrochen.
»So eine dreimal verfluchte Sch…!«, wütete Lisa. »Jetzt sitzt das blöde Schaf direkt vor dem Brief und will ihn nicht öffnen! Wie bescheuert ist das denn! Natürlich öffnet man die Briefe vom Ehemann, dafür braucht man doch keine Extra-Einladung! Das tut doch jede! Jede außer der ehrpusseligen Marie!«
Lisa schimpfte noch eine ganze Weile vor sich hin, ehe sie sich beim Pizzabringdienst eine große Pizza mit Salami, doppelt Käse und extra scharfer Peperoni bestellte. Sollte der Bote doch zusehen, wie er mit diesem Wetter klarkam, wieso machte er auch einen so bescheuerten Job!
*
In der Zwischenzeit befand sich Ben auf seiner stundenlangen Heimfahrt. Er hatte die Wettervorhersage gehört und sich gegen die Stimme der Vernunft entschieden, unterwegs zu übernachten. Zu groß war sein Wunsch, nach Hause zu seiner Frau zu kommen. Allerdings machte ihm nicht nur das Unwetter ein Strich durch die Rechnung, sondern auch sein alter Lieferwagen. Er gab unangenehm klopfende Geräusche von sich, die Ben zum Anhalten und Nachschauen gezwungen hatten. Obwohl der Mann auch etwas von Automechanik verstand, war er kein Fachmann, und konnte die Ursache für das beunruhigende Geräusch nicht ausmachen. Da ihn das Wetter ohnehin zum langsamen Fahren zwang, hoffte er, weder Motor noch Getriebe überzustrapazieren und zumindest noch Bergmoosbach zu erreichen.
Der Wind nahm weiter an Stärke zu und trieb die Wassermassen, die vom Himmel strömten, in wilden Wirbeln vor sich her. Beim Versuch, sich einen Überblick über den Schaden an seinem Wagen zu verschaffen, war Ben bis auf die Haut durchnässt worden, und nun saß er tropfend und frierend hinterm Steuer. Die Heizung lief immer schwächer und der erschöpfte Mann konnte sich ausrechnen, dass sie bald ausfallen würde.
Was sie dann auch am Ortseingang von Bergmoosbach tat! Und nicht nur die Heizung streikte, der Motor gab jetzt endgültig seinen Geist auf und tat keinen Mucks mehr. Ben konnte seinen Wagen gerade noch am Straßenrand ausrollen lassen, dann war er gestrandet. Mit einem müden Seufzer zog er sein Handy hervor, das zum Glück noch aufgeladen war und Empfang hatte! Er wählte Maries Nummer, und sofort war seine Frau am Handy.
»Ben? Ben, Liebling, ich bin so froh, dass du dich meldest! Wo bist du?«, schluchzte sie.
Alarmiert fuhr ihr Mann auf. »Marie? Was ist passiert? Geht es dir nicht gut, hast du frühzeitige Wehen?«, fragte er angstvoll.
»Aber nein, alles in Ordnung!«, beruhigte ihn seine Frau sofort. »Ich bin nur so froh, von dir zu hören, dass ich mal wieder weinen muss. Wo bist du? Wann kannst du hier sein?«
Ben seufzte. »Heute leider nicht, der Wagen ist hinüber. Im Augenblick geht nichts mehr! Ich stehe am nordöstlichen Ortsrand von Bergmoosbach und werde im Auto übernachten.« Er musste kräftig niesen. »Morgen früh rufe ich die Werkstatt an und lasse mich abschleppen. Bei diesem Wetter fährt jetzt niemand mehr raus.« Auch den nächsten Nieser konnte er nicht unterdrücken.
»Kommt ja überhaupt nicht infrage, dass du die ganze Nacht über im Auto bleibst!«, protestierte Marie. »Ich fahre gleich los und hole dich ab.«
»Nein, auf keinen Fall, das ist viel zu gefährlich!«, rief Ben sofort aus. »Du kannst keine zehn Meter weit gucken und es ist nicht sicher, ob Bäume umstürzen! Bleib, wo du bist, und kuschle dich in unser warmes Bett, morgen komme ich wieder nach Hause.«
Widerwillig fügte Marie sich seinen Argumenten wegen der Sicherheit, aber der Gedanke, den nassen, verfrorenen Ben die ganze Nacht im kalten Auto zu wissen, gefiel der jungen Frau gar nicht! Und dann hatte sie eine Idee.
»Ich rufe Lisa an und frage, ob du auf ihrem Sofa übernachten kannst. Sie wohnt doch nicht weit vom Ortsrand entfernt«, schlug Marie vor. »Bleib im Wagen, ich rufe gleich zurück!«
»Nein, warte! Ich …«, rief Ben, aber da hatte seine Frau das Gespräch schon beendet. Ihn beschlich ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken, ausgerechnet bei Lisa zu übernachten, so vertraut war er nicht mit der Freundin seiner Frau. Sie war ihm eher fremd, und ihren peinlichen Auftritt bei der Hochzeit hatte er auch noch nicht ganz vergessen.
Andererseits war sie in der letzten Zeit freundlich und zurückhaltend gewesen und hatte sich um Marie gekümmert. Vielleicht war sie doch ganz in Ordnung, und die Vorstellung, die ganze Nacht hier im eiskalten Wagen zu hocken, in den nassen Klamotten und mit einer beginnenden Erkältung in den Knochen, war nicht sehr schön. Wieder musste Ben niesen und schauderte in seinen nassen Sachen. Als Marie wenige Minuten später zurückrief und sagte, Lisa erwarte ihn, er solle sofort losrennen, da war er insgeheim erleichtert.
»Gute Nacht, mein Herz, schlaf schön! Ich ruf dich gleich morgen früh an und sage Bescheid, wann und wie ich nach Hause komme. Ich liebe dich!«, verabschiedete er sich von seiner Frau.
»Ich liebe dich auch!«, antwortete Marie zärtlich. »Gute Nacht, mein Liebster.«
Ben gab sich einen Ruck, verstaute sein Handy so gut es ging in seiner feuchten Jackentasche und rannte, so schnell die peitschenden Regenschauer es erlaubten, in den Ort und hinüber zu Lisas Haus.
Die junge Frau stand im hell erleuchteten Hausflur und hatte die Eingangstür weit geöffnet, damit der Lichtschein Ben den Weg wies. Triefend vor Nässe und durchgefroren bis auf die Knochen stolperte der Mann aus der Kälte und der Gewalt des Sturmes hinein in den schützenden Flur und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. Plötzlich war es sehr still; das Heulen des Windes und das Rauschen des Regens