»Hallo, Ben!«, begrüßte ihn Lisa. Sie verteilte zwar ihre üblichen Luftküsschen, war aber deutlich zurückhaltender als früher, wie der Mann sofort bemerkte. »Der Kaffee ist fertig, und ich wollte ihn eben zu Marie in die Laube bringen. Du kommst doch mit zu uns hinaus?«
»Geh du schon vor, ich komme gleich nach«, antwortete Ben reserviert. Er war sehr zurückhaltend in Lisas Gegenwart, weil ihm ihre aufdringliche Art nicht gefiel. So ganz konnte er nicht verstehen, was Marie mit dieser oberflächlichen und oft ordinär wirkenden Frau verband, aber bisher hatte er nichts dazu gesagt. Er ging hinüber ins Badezimmer, um sich den Staub von den Händen zu waschen, und setzte sich dann zu den Freundinnen in die Laube.
Lisa musterte ihn aus den Augenwinkeln. Auch Ben wirkte stiller als sonst. Die junge Frau spielte mit ihrer Kuchengabel. »Und? Wie geht es euch denn so?«, fragte sie.
»Eigentlich ganz gut«, antwortete Marie. »Mit den Babys ist alles bestens und mit mir auch. Ich werde nur viel schneller müde als sonst.«
»Du siehst auch etwas erschöpft aus«, tastete Lisa sich vor, »so als ob gerade alles ziemlich anstrengend ist.«
»Na, das kann man wohl gut nachvollziehen, auch wenn man nicht schwanger ist!«, antwortete Ben. Er klang leicht vorwurfsvoll, denn er fand Lisas Bemerkung über Maries Aussehen etwas taktlos.
Aber seine Frau schien es anders zu empfinden, denn sie antwortete gleichmäßig freundlich: »Ich weiß, was du meinst, Lisa, aber es sind nicht nur die Schwangerschaft und der Umbau. Wir haben jetzt ein wirkliches Problem.«
Lisa senkte kurz den Blick, um den Triumph in ihren Augen zu verbergen. Dann gelang es ihr, teilnehmend und besorgt dreinzublicken. »Welches Problem meinst du denn?« Innerlich frohlockte sie! Käme jetzt der Brief zur Sprache, würde sie natürlich erst einmal voller Empörung jeden Verdacht von Ben abweisen und sich als echte Freundin erweisen. Aber später, wenn sie mit Marie allein wäre, würde sie unmerklich die Zweifel an seiner Unschuld wecken. »Ist denn irgendetwas passiert, was euch besondere Sorgen macht?«, fragte sie scheinheilig.
»Das kann wohl sagen!«, antwortete Ben mit Bitterkeit in der Stimme. »Im alten Stall haben wir einen Schaden an der Bausubstanz entdeckt, den wir nicht auffangen können. Damit ist unser schöner Plan, hier Ferienwohnungen einzurichten, gescheitert.«
»Was?« Lisas Fassungslosigkeit und das Nichtbegreifen waren nicht gespielt. Wovon redete dieser Mann? Von einem Bauschaden? Und deshalb hatten die Stress? Wo blieb denn nun dieser verdammte Brief! »Du meinst, mit dem alten Stall ist etwas nicht in Ordnung? Das gibt’s doch gar nicht!«
Marie griff nach ihrer Hand. »Das ist lieb von dir, dass du so mit uns fühlst!«, antwortete sie weich. »Wir waren zuerst auch völlig fertig, als wir es entdeckt hatten.«
Lisa holte tief Luft. »Ja, äh, kann ich mir gut vorstellen«, murmelte sie.
»Tja, das war schon ein harter Schlag«, warf Benjamin ein. »Aber langsam kommen wir auch damit klar. Jetzt ruht das Projekt, und ich muss mich nach mehr neuen Aufträgen umschauen. Deshalb muss ich auch jetzt los, die Brauerei Schwartz will anbauen, und ich habe einen Termin mit dem alten Schwartz. Danke für die Kaffeepause, Mädels!« Er nickte den beiden Frauen freundlich zu und verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von Marie. »Bis nachher, mein Schatz, pass gut auf euch auf!« Seine Hand ruhte kurz auf dem Bauch seiner Frau, es war ein liebevoller Abschiedsgruß an die Babys. Lisa winkte er zu. »Man sieht sich!« Damit war er schon zur Tür hinaus, und man hörte seinen Wagen vom Hof fahren.
Lisa kaute immer noch an der Situation, mit der sie so nicht gerechnet hatte. Hatten die beiden ihr etwas verschwiegen? Oder war der Brief gar nicht angekommen? Sie musste unbedingt einen Blick in Bens Büro werfen und dort ein wenig herum schnüffeln!
»Ich gehe mal kurz in euer Bad, in Ordnung?«, fragte sie.
»Natürlich, du weißt ja, wo es ist«, antwortete Marie arglos. Sie bediente sich mit einem Stückchen Pflaumenkuchen und schien damit für die nächsten Minuten beschäftigt zu sein.
Lisa verschwand in der Diele und achtete darauf, die Tür fest zu schließen. Anstatt ins Gäste-WC zu gehen, schlüpfte sie in Bens Büro, das neben der Haustür lag. In Windeseile blätterte sie sich durch die eingegangene Post und schaute in die Schubladen vom Schreibtisch. Nichts außer Büroartikeln und geschäftlichen Unterlagen. »Sch…!«, fluchte Lisa und wollte schon wieder gehen, als ihr der Papierkorb einfiel. Rasch tauchte sie mit der Hand zwischen die Papiere, die dort lagen. Und siehe da: Ganz unten lagen sehr viele, äußerst sorgsam zerkleinerte Schnipsel eines Briefes, dessen scharlachrote Farbe ihr sehr bekannt vorkam!
»Also doch!«, stellte sie zufrieden fest. »Und offensichtlich willst du nicht, dass die liebe Marie davon etwas zu sehen bekommt? Warten wir doch einmal ab, was du mit meinem nächsten Brief tun wirst!«
Sorgfältig bedeckte Lisa die Schnipsel wieder mit den anderen Papieren, schloss geräuschlos die Tür uns kehrte in die Laube zurück. Dort setzte sie sich zu Marie an den Tisch, und die beiden Freundinnen verplauderten den Rest des Nachmittags. Das unerschöpfliche Thema waren natürlich die Zwillinge, für die Lisa Interesse heuchelte. Nur als es um die Gestaltung des Kinderzimmers und mögliche Namen ging, war Lisa wirklich bei der Sache. Wenn es nach ihr ginge, wäre das Kinderzimmer ein quietschbunter Abklatsch vom Disneyland, und ihre Namensvorschläge klangen in Maries Ohren ziemlich abenteuerlich: Queeny-Mae und Ocean-Felice für Mädchen und Kevin-Taylor und Jemy-Blue für Jungs.
»Doch, das klingt … besonders«, erwiderte Marie. »Wir, äh, wir werden es uns überlegen.«
»Das ist doch mal was anderes als dieser ganze altmodische Kram!«, befand Lisa zufrieden.
Marie lächelte nur und behielt eine Antwort für sich. Ben und sie fanden gerade die alten Namen sehr schön und in diese Richtung würde ihre Entscheidung gehen.
Sie begleitete ihre Freundin zu deren Auto, wo Lisa beim Abschiednehmen sagte: »Das ist ja wirklich eine mittlere Katastrophe mit dem verfaulten Gebälk, aber so wie euch kenne, werdet ihr auch das hinkriegen. Und du weißt ja, Marie, egal, was passiert, du kannst dich auf mich verlassen! Ein Anruf, und ich komme! Du kannst über alles mit mir reden!«
»Das weiß ich, Lisa, und ich danke dir dafür!« Marie drückte sie an sich. »Du bist zwar manchmal ein verrücktes Huhn, aber meine Freundin! Ich bin froh, dass ich dich habe.«
»Also dann, bis bald!«, winkte Lisa und machte sich auf den Heimweg.
In Gedanken formulierte sie bereits ihren nächsten Brief.
*
Der Sommer war in einen herrlichen Spätsommer übergegangen, der die ersten Vorahnungen des Herbstes in sich trug. Noch waren die Blätter an den Bäumen grün, aber es lag bereits ein goldener Schimmer über allem. Die Ebereschen auf dem Hof reiften ihrer leuchtenden Farbe entgegen, und am frühen Morgen verzauberten Nebelschwaden das Land.
Marie und ihren Babys ging es sehr gut. Sie wurden engmaschig von einer Gynäkologin der Uniklinik, in der die Entbindung stattfinden sollte, Doktor Seefeld und Hebamme Anna überwacht. Benjamin war der aufmerksamste Ehemann und werdende Vater, den eine Frau sich nur wünschen kann. Er las Marie jeden Wunsch von den Augen ab und achtete vor allem darauf, dass sie sich nicht überanstrengte und ausreichend Ruhe bekam.
Manchmal lachte Marie ihn sehr zärtlich aus. »Ben, ich bin nicht krank, nur schwanger! Ich zerbrösele schon nicht in meine Einzelteile, wenn ich jetzt aus diesem Sessel aufstehe, nach oben gehe und mir meine Strickjacke selbst hole.«
»Nein, das nicht, aber vielleicht stolperst du auf der Treppe oder stößt irgendwo gegen! Das alles passiert nicht, wenn ich dir die Jacke hole«, erklärte Ben entschieden.
Marie seufzte nachsichtig und nur ein klitzekleines bisschen genervt von seiner Überbesorgnis. »Mein Herzblatt, es ist sehr süß, dass du so auf uns aufpasst, aber ich bin weder leichtsinnig, noch unbeweglich wie ein Walross«, sagte sie und fügte mit