Ob Emmchen mit ihrer Mama mehr reden würde?, überlegte Sebastian. Über alle diese Mädchensachen, die im Kreis ihrer Freundinnen für unerschöpflichen Gesprächsstoff sorgten? Wieder einmal spürte er diesen nadelfeinen Stich der Trauer und des Verlustes, weil Helen nicht mehr bei ihnen war.
Sebastian atmete einmal tief ein und aus und fragte dann ruhig: »Und was hast du heute Nachmittag vor?«
»Ich muss nächste Woche den Deutschaufsatz abgeben, dafür will ich heute die Gliederung machen. Na, und den anderen Schulkram eben. Und dann will zum Ebereschenhof fahren. Marie hat doch gesagt, dass sie einen Hund haben wollen, vielleicht auch zwei, und bei Toni auf dem Gestüt sind gerade Colliewelpen geboren worden. Sie sind sooo süß!«, schwärmte Marie. »Das wollte ich ihr erzählen und sie fragen, ob sie Interesse hat.«
»Hm!«, meinte der Arzt. »Ich bezweifle, dass Marie und Ben in ihrer jetzigen Situation Zeit und Kraft haben, sich um die Erziehung eines Welpen zu kümmern. Denk doch nur mal an die Zeit, als Nolan so klein und furchtbar anstrengend war!«
Emilia richtete sich auf und sagte äußerst erwachsen und würdevoll: »Meinst du nicht, dass wir ihnen diese Entscheidung überlassen sollten, Papa?«
»Äh, ja, wohl wahr«, stotterte Sebastian. Emilia schaffte es doch immer wieder, ihn mit ihren Reaktionen zu überraschen! »Wenn du zum Hof fährst, nimmst du dann bitte diese Broschüre zum Thema Impfungen mit, von der ich Marie und Ben erzählt habe? Ich lege sie dir nachher hier auf den Küchentisch.«
»Klar, Papa, mach ich gerne, und …«, sie schaute ihren Vater an, der gerade seinen Mund öffnete, und grinste, »… und nein, ich werde auch bestimmt nicht vergessen, sie aus meinem Rucksack zu holen und bei Marie abzugeben!«
Sebastian Seefeld klappte den Mund zu und erwiderte das spitzbübische Grinsen seiner Tochter.
Im Laufe des Nachmittags machte sich Emilia auf den Weg zum Ebereschenhof. In ihrem Rucksack lag nicht nur die Broschüre über das Impfen, sondern auch eine Dose mit dem Rest des Kirschkuchens. Marie solle jetzt nicht mehr so viel am Herd stehen, sondern sich ein bissl verwöhnen lassen, hatte Traudel gemeint. Mal die Beine hochzulegen und ein Stückchen Kuchen zu essen habe noch keiner Schwangeren geschadet.
Gerade als Emilia von der einsamen Landstraße auf den Weg zum Ebereschenhof abbiegen wollte, kam ihr das Postauto entgegen. Jeder im Ort kannte den Fahrer, es war der Kräutner Michl. Er stammte aus Bergmoosbach, versorgte den gesamten Landkreis mit Post und war immer für ein Schwätzchen zu haben. Auch jetzt fuhr er sein Auto zur Seite, kurbelte das Fenster herunter und hielt einen kleinen Plausch mit Emilia, die ihrerseits auch immer etwas zu erzählen wusste.
»Du, Michl«, meinte sie, »wenn du jetzt gleich heim und zum Üben zu deinem Posaunenchor willst, kann ich dir den Weg zum Ebereschenhof nicht abnehmen? Ich fahre jetzt dort hoch, und du kannst gleich weiter nach Hause. Ich vergesse bestimmt nicht, die Post abzugeben! Vom Papa habe ich auch etwas dabei, was ich der Marie geben soll.«
Michl zögerte kurz. Natürlich durfte er die Briefe nicht an Dritte aushändigen, aber Pakete gab man ja auch schon mal bei freundlichen Nachbarn ab, und er kannte Emilia Seefeld als hilfsbereites, freundliches Mädchen. Also reichte er ihr die Post für den Ebereschenhof: eine Zeitschrift, zwei Kataloge und ein paar Briefe. »Gut drauf achten und gleich abgeben, gell?«, ermahnte er beim Abschied.
»Keine Sorge, das tu ich!«, rief Emilia, und dann trat sie kräftig in die Pedale ihres Mountainbikes, um die Anhöhe zum Ebereschenhof in Angriff zu nehmen.
Auf dem Hofplatz empfingen sie Radiomusik aus den geöffneten Küchenfenstern und die Geräusche von Hammer und Säge. Benjamin war offenbar im alten Stall und arbeitete. Emilia stellte ihr Rad ab und betrat die gemütliche Küche, wo Marie bei Radiomusik und einem großen Krug Eistee mit Bügeln beschäftigt war. Vernünftigerweise im Sitzen, wie die Tochter und Enkelin zweier Ärzte zufrieden feststellte!
»Hallo, Jungfer Seefeld!«, wurde sie begrüßt. Seitdem Emilia bei der Hochzeit die Brautjungfer gewesen war, redete Marie sie manchmal aus Spaß so an. »Schön, dass du mal wieder bei uns vorbei schaust!«
Das Mädchen ließ sich auf die Küchenbank fallen und kramte in ihrem Rucksack. »Eh ich’s vergesse, ich hab einiges für euch«, sagte sie. »Hier, superleckeren Kirschkuchen von Traudel, die Impfbroschüre von Papa und eure Post für heute. Ich habe eben den Michl getroffen, und er hat sie mir mitgegeben.« Sie legte alles vor sich auf den Tisch.
»Danke, Emilia«, antwortete Marie. Sie stellte das Bügeleisen aus, stand auf und streckte sich, wobei sie eine Hand ins Kreuz stützte. »Genug gebügelt für heute! Ich brauch mal ein bisschen Bewegung. Gib mir doch bitte mal die Post rüber, ich sortiere sie gleich und bringe sie rüber in Bens Büro.«
Marie legte die Zeitschrift und Kataloge auf den Küchentisch und schaute nach, welche Briefe an sie und welche an ihren Mann adressiert waren. Ben erhielt einiges in größeren, geschäftsmäßig aussehenden Umschlägen und einen kleinen, in einem auffallenden Rot. Die Adresse war nicht von Hand geschrieben, obwohl dieser Brief einen sehr persönlichen Eindruck machte, und er trug keinen Absender.
»Eigenartig«, murmelte Marie, legte ihn mit einem kleinen Achselzucken auf Bens Schreibtisch und vergaß ihn. Sie freute sich auf die Lektüre der beiden Kataloge, einen mit schöner Umstandsmode, einen mit Kinderwagen.
Bei einem neuen Krug mit Eistee und Traudels herrlichem Kirschkuschen vertieften sie und Emilia sich in die verlockende, bunte Vielfalt der Dinge, die angeblich rund ums Kinderkriegen unverzichtbar waren.
»Krass!«, staunte Emilia, die sich zum ersten Mal in dieser sehr speziellen Welt wiederfand. »Was man da alles kaufen kann! Und was das kostet …«, sprachlos deutete sie auf einen Gefährt der Luxusklasse, der eher nach einem kleinen Mondfahrzeug der NASA aussah als nach einem Kinderwagen. Und der exakt 1.895,- Euro kosten sollte. »Die spinnen doch total!«
Marie lachte. »Eigentlich unvorstellbar, wie unsere Mütter uns ohne all diesen Schnickschnack überhaupt großziehen konnten!«
»Aber guck mal, das hier ist doch süß«, schwärmte das Mädchen und wies auf ein altmodisches Gitterbettchen aus Metallgeflecht, über das ein hauchzarter, mit Sternchen bestickter Himmel gebreitet war.
Maries Augen leuchteten auf. »Das könnte mir auch gefallen! Aber siehst du, wie klein es ist? Lange kann ein Baby darin nicht liegen, und dafür ist es dann doch arg teuer. Leider!«
Die beiden blätterten weiter und unterhielten sich bestens sowohl beim Träumen als auch mit realistischen Möglichkeiten. Sonnenstrahlen tanzten auf dem Küchentisch, von draußen drangen das Lärmen der Spatzen und die Geräusche von Bens Bautätigkeit herein. Es war angenehm war; ein perfekter, goldener Spätsommertag mit einer unbeschwerten, heiteren Stimmung – bis wüstes Gebrüll die Gemütlichkeit des Nachmittags zerriss!
»Oh, nein! Nein, nein, nein, NEIN! So eine verdammte Sch…!«
»Ben!« Entsetzt sprang Marie auf und rannte, Emilia auf den Fersen, hinüber in den alten Stall. »Ben! Um Himmels willen, was ist passiert!«
Ben stand schwer atmend inmitten von altem Holz und Isoliermaterial und wies an die Decke des Stalls. »Das ist passiert!« antwortete er.
Marie starrte nach oben und konnte kaum glauben, was sie dort sah. Ben hatte begonnen, die Zwischendecke zwischen Stall und Dach zu entfernen, um das tragende Balkenwerk freizulegen. Aber anstelle stabiler Balken, die nur vom Alter nachgedunkelt waren, erwartete ihn verrottetes, schwarzes Holz, das mit widerlichem Schimmel und bräunlich-gelben Auswüchsen überzogen war! Über einen sehr langen Zeitraum musste Wasser in den Hohlraum eingedrungen sein, welches das Holz durch und durch verfaulen ließ. Die Balkenkonstruktion war inzwischen derart verrottet, dass sie unter der Berührung der bloßen Hand zu ekelhaftem, weichem Abfall zerfiel.
Marie erfasste die Tragweite der Zerstörung mit einem Blick. »Nein!«, flüsterte sie tonlos.