Wenn sie den Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden bedachte, konnte sie doch nur froh und dankbar sein. Ihr Mann hatte die gefährliche Fahrt bei dem Unwetter unbeschadet überstanden und bei einer guten Freundin Schutz für die Nacht gefunden. Die anonymen Briefe hatten ihren Schrecken verloren und sich in Rauch und Asche aufgelöst. Sie selbst war behütet und geborgen zu Hause und wurde von ihrem Mann mit ihrem Lieblingsessen verwöhnt. Es gab keine andere Frau, keinen Betrug, und Ben würde sie niemals verlassen.
Woher kam dann dieser flüchtige Schatten, der wie unsichtbarer Rauch von den verbrannten Briefen aufzusteigen schien und eine hauchfeine Trübung auf dem Glanz ihres Glücksgefühls hinterließ?
Woher kam die schwebende Ahnung, dass noch längst nicht alles gut war?
*
Von Niklas, der zur Zeit in Skandinavien lebte und arbeitete, war vor Wochen ein verlockendes Angebot an Ben gekommen. Weit oben im Norden Norwegens wurde ein Dorf mit historischen Bauten errichtet. Benjamin, der sich nicht nur als Bau- sondern auch als Möbeltischler einen Namen gemacht hatte, sollte bei dem Projekt hinzugezogen werden.
Als die Anfrage gekommen war, hatte er sofort abgesagt. Seine Frau wäre zu dem Zeitpunkt bereits hochschwanger, und er wollte sie nicht allein lassen. Marie wusste, wie sehr ihr Mann sich über dieses besondere Angebot gefreut hatte, und war gerührt von Bens Verzicht. Er hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Du bist schwanger und brauchst mich, da kommt etwas anderes überhaupt nicht infrage!«
»Schatz, es muss doch nichts passieren. Zwillingsgeburten liegen bei uns in der Familie. Seit Ewigkeiten bekommen Frauen Kinder, und früher war die Arbeit körperlich viel härte als heute«, entgegnete Marie.
»Ja, und wie viele Frauen und Kinder sind deswegen gestorben?«, wandte Benjamin ein. »Du bist dann alleine hier auf dem Hof, und wir haben keine direkten Nachbarn. Was ist, wenn dir etwas passiert? Wenn es zu früh losgeht und du ganz allein bist? Du weißt, dass die Geburt in der Uniklinik stattfinden soll.«
Marie stimmte ihrem Mann zu, natürlich wollte sie nicht gerne alleine sein. Andererseits fühlte sie sich durch Doktor Seefeld und Anna sehr gut überwacht und von ihren Freunden liebevoll unterstützt. Sie hätte Ben diese besondere Arbeit von Herzen gegönnt, außerdem wurde sie ungewöhnlich gut bezahlt. Die junge Familie konnte, besonders nach dem Desaster mit dem verfaulten Gebälk, lohnende Aufträge für Ben dringend gebrauchen.
Deshalb hatte Marie nach ausführlichen Gesprächen mit ihren Ärzten und der Hebamme und mit der freundlichen Unterstützung ihrer Freunde im Rücken noch einmal vorgeschlagen, dass Ben doch nach Norwegen reisen solle. »Es sind doch nur vier Wochen, Liebling! Und ich lebe nicht auf einem angelegenen Einödhof, sondern in Sichtweite Bergmoosbachs. Wenn ich Hilfe brauche, genügt ein Anruf, und ich werde versorgt. Ich schaffe das!«, versuchte Marie, ihren Mann zu überzeugen.
Ben zögerte lange. Ihm gefiel der Gedanke, seine schwangere Frau sich selbst zu überlassen, überhaupt nicht. Vor allem nicht in der noch immer ungeklärten Situation mit den anonymen Briefen! Wer wusste denn, was vielleicht noch kommen würde? Aber schließlich überstimmten die Gespräche mit ihr und den Ärzten seine Bedenken. Es ging Marie sehr gut, und man rechnete nicht mit einem frühzeitigen Einsetzen der Wehen. Wenn sie sich schonte und in ständigem Kontakt mit der Hebamme und den Medizinern blieb, stand Bens Reise eigentlich nichts im Weg.
»Das Madl könnte doch auch bei uns im Gästezimmer wohnen, solange ihr Mann nicht da ist«, schlug Traudel im Namen der ganzen Familie Seefeld vor.
»Brauchst nur anzurufen und zu sagen, was du einkaufen willst. Ich stell dir den Korb zusammen und schicke ihn dir zum Ebereschenhof«, bot Fanny an, der das Lebensmittelgeschäft gehörte.
»Und wenn du was Neues zum Lesen brauchst, das bringe ich dir gerne!«, kam es von Kiosksbesitzerin Afra bereitwillig. Bei der Gelegenheit könnte man auf dem Hof gleich ein wenig hinter die Kulissen schauen!
»Haare, Maniküre, Pediküre – alles im Home Service! Für die Schönheit sorge ich«, prahlte Lisa, die falsche Schlange.
Durch soviel Unterstützung einigermaßen beruhigt, schob Benjamin schließlich seine Zweifel zur Seite und machte sich auf den Weg nach Norwegen. Es war ein langer, zärtlicher und wehmütiger Abschied der Liebenden. Nun, als es ernst wurde, sank Maries Mut, und insgeheim bereute sie ihren Vorschlag. Körperlich ging es ihr erstaunlich gut, und sie wusste, dass sie sich auf ihre Freunde verlassen konnte – aber sie vermisste Ben bereits, als er noch nicht einmal die Landstraße nach Bergmoosbach erreicht hatte.
Und in aller Liebe, in allem Vertrauen schwang der Hauch der Angst mit: Die Angst, Ben letztendlich doch zu verlieren. Wenn es Lisa auch noch nicht gelungen war, die Liebenden auseinander zu bringen, so hatte sie es doch geschafft, den Seelenfrieden des Paares zu erschüttern.
*
Die Reise schien unter keinem guten Stern zu stehen.
Der Zug, der Ben zum Flughafen nach München bringen sollte, hatte so große Verspätung, dass die Fahrt kaum rechtzeitig zu schaffen war. Als er den Flughafen erreichte, kam gerade die Nachricht, dass der gesamte Flugverkehr wegen gefährlicher Flugasche, verursacht durch einen Vulkanausbruch auf Island, lahmgelegt war!
Marie telefonierte mit Ben, und ihr ganzes Herz drängte zu ihm. »Ich setzte mich in den nächsten Zug und komme nach München! Dann haben wir noch etwas gemeinsame Zeit, bis du endgültig in den Flieger steigst«, schlug sie begeistert vor.
Ben zögerte. »Liebling, ich möchte nicht, dass du nur für einen Tag und eine Nacht die Fahrt auf dich nimmst, das ist zu anstrengend. Die Züge werden jetzt überfüllt sein, weil viele Reisende darauf ausweichen. Es ist mir lieber, dich sicher in Bergmoosbach zu wissen.«
Die junge Frau musste ihm zustimmen, denn seine Einwände waren nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem war sie enttäuscht, sie hatte sich das unverhoffte Treffen sehr schön und romantisch vorgestellt. Anstatt nach München zu reisen, fuhr sie nur bis Bergmoosbach und besuchte ihre Freunde im Doktorhaus. Es war ein schöner und vergnügter Nachmittag, der in eine gemütliche Runde am Abendbrottisch überging, aber das Alleinsein danach schmerzte dennoch. Das Zuhause, ihr gemeinsames Zimmer, das breite Bett – alles schien zu groß geworden zu sein ohne Bens freundliche, wärmende Gegenwart.
»Das wird schon! Du gewöhnst dich dran«, meinte Lisa unbekümmert, als sie wenige Tage später auf dem Ebereschenhof zu Besuch war. »Bald kommt er ja wieder zurück zu dir.«
Aber ich bezweifle, dass du ihn dann noch haben willst!, dachte sie boshaft.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwer fallen wird«, seufzte Marie. »Wir telefonieren zwar übers Internet und dabei können wir uns auch sehen, aber es ist doch nicht dasselbe.«
»Ja, ja, die liebe Liebe hält uns alle ganz schön auf Trab!«, erwiderte Lisa. »Es wird Zeit, dass ich mal wieder mit einem richtigen Typen zusammen bin. Single war ich nun lange genug. das macht zwar auch Spaß, aber jetzt will ich mehr.«
»Gibt es denn jemanden, den du sozusagen im Auge hast?«, fragte die ahnungslose Marie.
»Sozusagen ja!«, antwortete Lisa mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Das ist ja interessant! Wie weit seid ihr denn auf dem Weg zueinander?«, erkundigte sich Marie voller Anteilnahme.
»Hmmm, darüber möchte ich noch nicht sprechen, es ist ein bissl früh. Wir sind offiziell kein Paar, das muss noch etwas warten«, sagte Lisa verträumt.
»Ich freu mich für dich!«, antwortete Marie herzlich. Sie hob ihr Glas mit dunkelroter, aromatischer Kirschschorle. »Komm, lass uns auf dein neues Glück anstoßen.«
»Auf mein neues Glück!«, entgegnete Lisa mit einem so strahlenden Aufschlag ihrer himmelblauen Augen, dass niemand auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie etwas Böses plante. Sie heuchelte weiter Interesse an der Schwangerschaft, versorgte Marie mit harmlosen Klatsch aus dem Salon Glamour und kochte einen beruhigenden Kräutertee zum Einschlafen. »So, ich fahre jetzt, und du gehst ins Bett. Den Tee kannst