»Bitte sehr«, sagte er und öffnete die Tür zu einer kleinen Speisekammer. »Du kannst dir nehmen, was immer du möchtest. Ich kümmere mich um den Kamin, damit wir nicht in Decken eingehüllt essen müssen.«
»Das ist sicher eine gute Idee«, stimmte Susanne ihm zu und betrat die Kammer.
In den beiden Regalen standen Gläser mit Gemüse und Obst, Dosen mit Fertiggerichten, Nudeln, Mehl, Öl und Gewürze, Kaffee, Tee, Kekse und Schokolade.
»Nudeln mit Artischocken und Oliven, danach Birnen im Schokoladenmantel? Was hältst du davon?« Sie schaute Leonhard an, der den Kamin inzwischen angeschürt hatte und nun in der Tür stand und ihr zusah.
»Das klingt verlockend.« Er nahm ein Tablett aus dem Regal und hielt es fest, bis Susanne alles aufgeladen hatte, was sie für ihr kleines Menü benötigten.
Während die Nudeln kochten, bereitete Susanne die Oliven und die Artischocken vor, ließ die Birnen abtropfen und legte die Schokolade in eine Schale, die sie in ein Wasserbad stellte. Leonhard kümmerte sich um die Betten, bezog Kissen und Decken mit den blauen Bezügen, die er aus dem bemalten Bauernschrank nahm. Danach dekorierte er den Tisch mit Teelichtern, die er in Gläser stellte und die geheimnisvolle Schatten an die Wände warfen. Eine Viertelstunde später standen die Teller mit den Nudeln auf dem Tisch ,und Leonhard öffnete eine Flasche Rotwein, die er aus einem verschlossen Schrank in der Vorratskammer geholt hatte.
»Verstößt das nicht gegen die Ehre des Bierbrauers?«, fragte Susanne.
»Dürfen Imker keine Marmelade essen?«
»Perfekte Antwort«, sagte Susanne und musste laut lachen.
»Warte, ich hole uns noch Servietten«, sagte er. Er zog eine Schublade in dem Schrank neben dem Herd auf und schaute hinein. »Was ist denn das?«, murmelte er, als er ein Schreibheft herauszog, dessen Umschlag mit einem blau weißen Küchentuch bezogen war. »Das ist die Schrift meiner Mutter, sie hat Rezepte aufgeschrieben«, stellte er erstaunt fest, als er das Heft aufschlug.
»In der Zeitung stand neulich, dass sie vor einem halben Jahr in den Bergen verunglückt ist.«
»Klettern war ihre Leidenschaft, niemand hätte sie davon abhalten können, auch nicht an diesem verhängnisvollen Tag. Der Steinschlag, der den Haken aus der Wand schlug, an dem ihr Seil befestigt war, war nicht vorherzusehen.«
»Meine artistische Einlage vorhin hat dich an das Unglück erinnert.«
»Ja, ich musste daran denken, das ließ sich gar nicht vermeiden.«
»Ich stand wohl ziemlich dicht am Abgrund.«
»Du solltest nicht darüber nachdenken, es ist vorbei. Das Essen duftet köstlich, wir sollten es nicht kalt werden lassen«, lenkte er sie sofort ab. »Es schmeckt so gut, wie es duftet«, sagte er, als er von den Nudeln versucht hatte.
»Danke, es ist das erste Mal, dass ich auf einer Almhütte koche«, entgegnete Susanne und freute sich über sein Lob.
»Hast du denn schon einmal auf einer Almhütte übernachtet?«, fragte er sie, nachdem sie die Birnen in Schokoladensoße gegessen hatten und das Geschirr spülten.
»Nein, das ist auch eine Premiere für mich«, gab Susanne ehrlich zu.
»Als ich noch klein war, war ich oft mit meinen Eltern hier oben. Manchmal war mir die Stille richtig unheimlich, ich habe mich auf den Teppich vor den Kamin gelegt und in das knisternde Feuer geschaut. Meine Eltern haben sich dann zu mir gesetzt, und mein Vater hat Geschichten von Berggeistern und Feen erzählt.«
»Ich würde gern eine von diesen Geschichten hören.«
»Möchtest du dich ein bisschen gruseln?«
»Eine Geschichte zum Träumen wäre mir lieber, mein Gruselbedarf ist für heute gedeckt.«
»Das ist allerdings wahr«, stimmte Leonhard ihr zu. »Vielleicht fällt mir etwas Passendes ein«, sagte er. Er nahm die beiden großen Kissen von den Betten herunter und legte sie nebeneinander auf den Teppich vor den Kamin. »Das ist der beste Platz zum Träumen«, erklärte er ihr, stellte die Rotweinflasche und die beiden Gläser auf den Boden und machte es sich auf dem flauschigen Teppich und den Kissen bequem. »Hast du es dir anders überlegt?«, fragte er, als sie zögerte, es ihm gleich zu tun.
»Nein, das habe ich nicht.« Ich fürchte mich nur vor meinen Träumen, vielleicht sind sie zu groß, um erfüllt zu werden, dachte sie, als sie aus ihren Schuhen schlüpfte und sich neben ihn legte.
»Wie war das mit Schneewittchen und dem Prinzen, der sie wachgeküsst hat? Die beiden waren sich doch nie zuvor begegnet. Oder Dornröschen, der Prinz, der sie wachgeküsst hat, war noch gar nicht geboren, als sie in ihren tiefen Schlaf fiel.« Leonhard lag auf der Seite, stützte seinen Kopf in die Hand und betrachtete Susanne wie ein Gemälde, von dem er sich jede Einzelheit einprägen wollte.
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Sie waren alle der Liebe auf den ersten Blick verfallen.«
»Ein Privileg der Märchen. Der strahlende Prinz und das gute Mädchen, sie müssen nichts hinterfragen, sie sind füreinander bestimmt.«
»Vielleicht sind wir auch füreinander bestimmt.«
»Ja, vielleicht«, sagte sie, als er sie mit seinen dunklen Augen anschaute und ihr beinahe der Atem stockte, weil sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als dieses Vielleicht in eine Tatsache zu verwandeln.
»Die Gipfel dort in der Mitte.« Leonhard schaltete die Stehlampe aus, die als einzige Lichtquelle in der Hütte diente, legte sich auf den Rücken und deutete auf die Berge, die sie durch das große Fenster der Hütte sehen konnten.
Der Mond stand genau über den beiden höchsten Bergspitzen, die in sein gleißend weißes Licht getaucht an den Nachthimmel ragten. Zwischen den beiden Gipfeln öffnete sich eine dunkle Schlucht.
»Es heißt, die beiden Berge lagen tausend Jahre unter einer Eisschicht verborgen. Nachdem das Eis geschmolzen war, konnten sie sich zum ersten Mal ansehen und von diesem Moment an fühlten sie sich zueinander hingezogen. Das ist der Grund für die Gerölllawinen, die dort von beiden Seiten in jedem Jahr abgehen. Sie wollen die Kluft zwischen sich auffüllen, um sich endlich nahe zu sein.«
»Werden Sie es irgendwann schaffen?«
»Die Leute sagen, um die Kluft zu füllen, müssten die Gipfel sich vollkommen abtragen. Um zusammen zu sein, müssten sie sich demnach auflösen.«
»Nein, sie vereinen sich, und es entsteht ein neuer Gipfel.«
»Das klingt viel besser«, sagte Leonhard und wandte sich ihr wieder zu.
Susanne sah ihn an, spürte die Wärme des Kaminfeuers und fühlte sich geborgen, trotzdem begann sie auf einmal zu zittern.
»Ist dir kalt?«, fragte Leonhard.
»Nein, gar nicht, ich weiß nicht, warum ich zittere.«
»Du hattest einen Schock, der sich erst jetzt vermutlich ganz löst.« Behutsam nahm er sie in den Arm und zog sie an sich. »Lass dich einfach fallen«, sagte er und küsste sie auf ihr Haar.
Seine Nähe fühlte sich wundervoll an, und es dauerte nicht lange, bis das Zittern aufhörte und Susanne sich auch innerlich entspannte.
»Geht es wieder?«, fragte er, als sie aufschaute und ihn ansah.
»Halte mich noch ein bisschen fest«, bat sie.
»Solange du willst«, sagte er leise und zog sie zärtlich an sich.
Susanne wollte nicht darüber nachdenken, was in Zukunft mit ihr und Leonhard passieren würde, dieser Moment der Nähe fühlte sich vollkommen an.
*
Am nächsten Tag ließen sie sich Zeit. Nach einem späten Frühstück schaute Susanne noch einmal nach den Bienen, während Leonhard in dem Rezeptheft seiner Mutter