»Ich habe mir nur den Sonnenaufgang angesehen.«
»Aber es gibt jemanden, mit dem Sie ihn sich gern zusammen angeschaut hätten.«
»Sie meinen jemanden, mit dem ich auch gern den Anblick dieses Sternenhimmels teilen würde?« Sie lehnte ihren Kopf an die Nackenstütze und schaute an den Himmel, der hier weitab von den Lichtern einer Großstadt ein grandioses Schauspiel bot.
»Gibt es jemanden?«, fragte Leonhard.
»Nein, es gibt niemanden«, sagte sie und wandte sich ihm zu.
»Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen morgen unsere Bienenstöcke zeigen.«
»Um 11 Uhr?«
»Ich warte an der Imkerei auf Sie.«
»Dann bis morgen.«
»Ich freue mich.« Leonhard stieg aus und lief um das Auto herum, um Susanne die Beifahrertür aufzuhalten. »Ich wünsche Ihnen schöne Träume«, sagte er und umfasste ihre Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
»Ich wünsche Ihnen auch schöne Träume.« Und jetzt sollte einer von uns gehen, sonst stehen wir noch im Morgengrauen hier, dachte Susanne, weil weder er noch sie sich bewegte. »Gute Nacht, Herr Schwartz«, sagte sie kurz entschlossen, als sie auf einmal diese Sehnsucht überfiel, ihm nahe sein zu wollen. Schnell schob sie das Gartentor auf und lief über die Wiese, ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als sie schon vor ihrer Haustür stand, schaute sie zurück.
Sie sah, wie Leonhard in sein Auto stieg, den Motor anließ und langsam ins Dorf hinunterfuhr, so langsam, als wäre er am liebsten wieder umgekehrt.
*
Am nächsten Morgen machte sich Susanne eine Stunde vor der verabredeten Zeit auf den Weg ins Dorf. Sie wollte noch eine Geburtstagskarte an ihre Mutter aufgeben. Ihre Eltern verbrachten die nächsten Wochen bei Freunden in Griechenland, und sie würde sie in diesem Jahr nicht besuchen können. Die Poststelle war im Schreibwarenladen am Marktplatz untergebracht, und wie an jedem Samstagvormittag herrschte auf dem Marktplatz Hochbetrieb. Die Bergmoosbacher erledigten ihre Einkäufe in den Geschäften, die dort angesiedelt waren, und die Touristen saßen im Café oder liefen staunend über die schönen alten Häuser mit ihren Fassadenmalereien über das Kopfsteinpflaster.
Susanne blieb an dem gemauerten Brunnen in der Mitte des Platzes stehen und betrachtete den Bär, der aus Stein gehauen auf einem Podest im Brunnen stand. Gestiftet von Johannes Schwartz – 1759, stand auf dem Messingschild, das an dem Bärenbefestigt war.
»Leonhards Familie gehört zu den ältesten im Dorf.«
»Guten Morgen, Anna.« Susanne wandte sich der Freundin zu, die plötzlich hinter ihr stand.
»Wie war es gestern?« Anna setzte sich auf den Brunnenrand, zog den Rock ihres roten Kleides gerade, warf ihre langen Locken in den Nacken und sah Susanne abwartend an.
»Es war unglaublich. Wenn es nicht so spät geworden wäre, dann hätte ich dich noch angerufen.«
»Was heißt unglaublich, und warum ist es spät geworden?«
»Mein früher Kunde gestern Morgen, das war er.«
»Leonhard?«
»Hm.« Susanne setzte sich neben Anna auf den Brunnenrand und erzählte ihr von ihrem Besuch in der Imkerei Schwartz. »Irgendwie rührend, dass ihm diese Sache peinlich war.«
»Rührend, aha?«
»Was?«, fragte Susanne, als Anna sie anschaute.
»Da ist so ein merkwürdiger Glanz in deinen Augen, wenn du von ihm sprichst.«
»Das kommt von der Sonne«, entgegnete Susanne und gab vor, zu blinzeln.
»Ich bin sicher, dass es hier kribbelt«, flüsterte Anna und tippte auf Susannes Magen.
»Vielleicht«, antwortete sie lächelnd. »Was ist das?«, fragte sie und schaute auf, als plötzlich der Gesang eines Frauenchors zu hören war.
Alle, die in diesem Moment auf dem Marktplatz unterwegs waren, blieben stehen und schauten in Richtung Dorfgemeindehaus, einem renovierten Fachwerkbau, der ein wenig schüchtern hinter dem zweistöckigen Rathaus mit seiner ausladenden Treppe und dem hochaufragenden Turm hervorlugte.
Gleich darauf wurde der Gesang lauter, und die Frauen des Landfrauenvereins, die im Gemeindehaus ihren Vereinssitz hatten, marschierten immer zu zweit untergehakt am Rathaus vorbei auf den Marktplatz und sangen die zweite Strophe von ›Das Wandern ist des Müllers Lust‹. Alle Damen trugen Dirndl, hatten Strohhüte auf dem Kopf und kleine Rucksäcke aufgeschnallt. Elvira Draxler und Therese Kornhuber, die Vorsitzende des Landfrauenvereins, führten die Gruppe an.
»Der Landfrauenverein hat Wandertag«, sagte Anna, als sie Suannes verdutzte Miene sah.
»Ich glaube, ich habe es jetzt fürchterlich eilig«, erklärte der hoch aufgeschossene Junge mit dem strohblonden Haar, der ein Baby in einem bunten Tragetuch mit sich herumtrug.
»Hallo, Markus«, begrüßte Anna ihn freundlich.
»Sag deiner Patentante schnell guten Tag, Möpschen«, sagte Markus und streichelte seinem kleinen Bruder über die hellen Löckchen.
»Möpschen?«, fragte Anna lachend und betrachtete das Kind, das sie zusammen mit Sebastian auf die Welt geholt hatte und das nun ihr gemeinsames Patenkind war. Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie den Kleinen streichelte und er sie mit einem strahlenden Lächeln ansah.
»Der Mini ist erst ein Vierteljahr alt, aber er wiegt schon eine Tonne«, erklärte Markus, warum er seinen Bruder Möpschen nannte.
»Bist du allein mit ihm unterwegs?«, wunderte sich Anna. Der Mittnerhof, der Markus‘ Familie gehörte, lag weit außerhalb des Dorfes. Das war ein anstrengender Fußmarsch mit einem Säugling auf dem Arm.
»Mama ist beim Friseur, die Zwillinge sind zu Hause bei Papa, und ich mache ein paar Besorgungen und zeige Bastian herum. Er ist ja schon ziemlich knuddelig«, gab Markus voller Stolz zu.
»Du machst das wirklich gut«, sagte Susanne und berührte das Baby ganz behutsam am Arm. Der Kleine kannte sie nicht, und sie wollte ihn nicht erschrecken.
Aber Bastian lachte auch mit ihr, er war es gewohnt, viele Leute um sich herum zu haben, und die Zwillinge Senta und Benjamin gingen mit ihren sechs Jahren auch nicht besonders behutsam mit ihrem kleinen Bruder um.
»Ich gehe dann, ehe sie mich mit ihren guten Ratschlägen überschütten, bis dann«, sagte Markus und verschwand in der Bäckerei, als die Landfrauen sich dem Brunnen näherten.
»Sie haben uns im Blick«, flüsterte Anna, als Elvira und Therese zu ihnen herüberschauten.
»Nach dem, was ich bis jetzt über die beiden gehört habe, hätten sie gern alles im Blick.«
»Das ist wahr, zum Glück sind nicht alle Landfrauen so wissbegierig. Die meisten sind eigentlich ganz nett. Es ist alles in Ordnung«, sagte Anna, als Susanne aufstand und sich über die Schulter schaute, um den Sitz ihres Kleides zu überprüfen. »Es steht dir ganz wunderbar«, versicherte sie ihr und sah auf das schwarz gepunktete gelbe Leinenkleid mit den breiten Trägern und dem runden Ausschnitt.
»Ich hoffe, ich werde nicht jedes Mal so aufgeregt sein, wenn ein Treffen mit Leonhard bevorsteht, sonst werde ich die Arbeit in der Imkerei nicht lange durchhalten. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen«, gestand Susanne der Freundin, während Elvira den Blick weiter auf sie gerichtet hielt und so dicht an ihr vorbeiging, dass sie sie beinahe streifte.
»Aber es ist doch diese Art Aufregung, die eine neue Liebe so interessant macht.«
»Eine neue Liebe?« Susanne sah Anna verblüfft an.
»Du willst mich nicht vom Gegenteil überzeugen?«
»Du meinst, es würde mir nicht gelingen?«
»Wie